Mama“ – welche Mutter freut sich nicht, wenn ihr Kind das erste Mal dieses einfache Wort zu ihr sagt. Für Pflegemütter (ebenso Pflegeväter) ist das alles viel komplizierter, oft belastend. Wenn das Kind, das sie im Auftrag der Behörden großziehen, sie mit „Mama“ oder „Papa“ anspricht, dann mag das dem Gefühl nach stimmen – juristisch betrachtet, bleibt das Sorgerecht fürs Kind bei den leiblichen Eltern. Nur ein Richter kann es ihnen entziehen. Die Vormundschaft über das Pflegekind übernimmt in der Regel das Jugendamt. Die Selbsthilfegruppe „Pfad für Kinder“ im Haßbergkreis setzt sich auf Seiten der Pflegeeltern dafür ein, dass in diesem Dreiecksverhältnis zwischen Pflegeeltern, Behörden und Herkunftsfamilien das Wohl der Pflege- und Adoptivkinder nicht zu kurz kommt.
Vier lange Jahre warteten Doris Runge und ihr Mann, bis endlich der ersehnte Anruf vom Jugendamt kam. Sie waren zuvor psychologisch und pädagogisch auf Herz und Nieren geprüft worden, ob sie als Pflegeeltern überhaupt geeignet sind. Das Jugendamt hatte sich bei ihnen zu Hause gründlich umgesehen. Das Ehepaar hatte ein Pflegeeltern-Seminar besucht. Dann hieß es warten auf ein Pflegekind. Der Anruf des Jugendamts kam trotz allem überraschend.
Familie Runge heißt in Wirklichkeit nicht so. Ihr Fall liegt einige Jahre zurück und trug sich auch nicht im Kreis Haßberge so zu. Der Schutz der Betroffenen verbietet es, an dieser Stelle konkreter zu werden. So beruht die Schilderung auf Angaben des Landesverbands des Pfads für Kinder. Dort sind derartige Fälle aus ganz Bayern bekannt. So könnte sich das, was Pflegefamilie Runge erlebt hat, genau so auch in Haßfurt, Hofheim, Bundorf oder Knetzgau abgespielt haben.
Doris Runge hatte nach dem Anruf des Jugendamts nur wenige Tage Zeit, all das vorzubereiten, was andere in neun Monaten Schwangerschaft in Ruhe planen. Genauso schnell musste sie sich von ihrer Rolle als Steuerfachangestellte hineinschlüpfen in die Rolle der Mutter des wenige Tage alten Jakobs. Ihren Job gab sie auf. Den meisten Pflegemüttern geht es so. Manche Arbeitgeber ermöglichen Pflegemüttern einen dreijährigen Erziehungsurlaub. Ein Anspruch darauf besteht nicht.
Kindeswohl gefährdet
Wenn ein Richter beschließt, ein Kind aus einer Familie herauszunehmen, muss das Kind dort Schlimmes erlebt haben. Im Behördendeutsch heißt das: Das Kindeswohl muss gefährdet sein. Konkret geht es oft um Fälle von Missbrauch, Gewalt oder Vernachlässigung. Wenn Eltern ihr Kind weggenommen wird – in akuten Fällen auch mitten in der Nacht –, dann ist das für Gericht und Behörden das letzte Mittel, dem etliche Versuche vorausgehen, eine andere Lösung zu finden.
Diese Hintergründe spielten für Doris Runge in diesen Tagen keine Rolle. Sie und ihr Mann waren überglücklich, ein Baby als Pflegekind zu erhalten. Für sie erfüllte sich ein Traum. In den allermeisten Fällen sind die Kinder älter, wenn sie zu ihren Pflegefamilien kommen. Man könnte auch sagen, sie sind vorbelasteter.
Obwohl sie ständig für das Baby da ist, es füttert, wickelt, mit ihm spielt, es tröstet – juristisch gesehen war (und ist) Jakob nicht Doris Runges Sohn. Liebend gerne würden sie und ihr Mann den Buben adoptieren. Doch dem müssten die leiblichen Eltern erst zustimmen. Eine schwierige Situation, für alle Beteiligten. Besonders deutlich wird dies beim Umgangskontakt, der für Pflegekinder und ihre leibliche Eltern gilt: Alle paar Wochen treffen beide Seiten aufeinander. Dies ist oft belastend, denn für manche Kinder sind die leiblichen Eltern wie Fremde.
Doris Greul (51) aus Zeil kennt die Zwangslage, in der sich viele Pflegeeltern befinden. Die zweite Vorsitzende des Pfads für Kinder im Kreis Haßberge hatte selbst mehrere Pflegekinder, zwei in Vollzeit und mehrere in Tages- und Bereitschaftspflege (Übernahme von Akutfällen). „Die Ängste und Sorgen, die Pflegekinder mit in ihre Pflegefamilie bringen, führen zu einer ganz besonderen Beziehung zwischen beiden Seiten“, findet Greul. Dass der Umgang miteinander am Anfang oft alles andere als leicht ist, bestätigt Gudrun Dinkel (56) aus Buch, einem Ortsteil von Untermerzbach. Sie ist Kassier beim Pfad für Kinder und hat in ihrer Familie drei Pflegekinder aufgenommen.
Pflegekinder müssen erst ihre Rolle in der neuen Familie finden, sie testen aus, wie weit sie gehen können. „Sie wirbeln die ganze Familie durcheinander“, erinnert sich Doris Greul. Dies belastet auch die leiblichen Kinder der Pflegefamilie, besonders, wenn diese jünger sind als die Pflegekinder. Diese Erfahrung hat Gudrun Dinkel gemacht und rät Pflegeeltern dazu, immer nur Kinder aufzunehmen, die jünger sind als die eigenen. Die Zerrissenheit zwischen den leiblichen Eltern, bei denen sie nicht mehr leben dürfen, mit denen sie aber Kontakt halten (müssen), und ihrer neuen Familie übt einen Druck auf die Pflegekinder aus, meint Gudrun Dinkel.
In diesem sozialen Minenfeld bewegen sich fast alle Pflegeeltern. Bei den Treffen des Pfads für Kinder können sie sich austauschen – und erfahren, dass manches Verhalten ihrer Pflegekinder bei anderen genauso vorkommt, und dass es nicht ihr Versagen als Pflegeeltern ist, wenn es nicht immer harmonisch zugeht. Zwölf Pflegeeltern und ein Fördermitglied haben sich derzeit dem Pfad für Kinder Haßberge angeschlossen, berichtet Greul. Etwa 80 Pflegefamilien gebe es im Landkreis. Auch, wer keine Pflegekinder hat, kann sich der Selbsthilfegruppe anschließen. „Wir sind auf Spenden angewiesen“, sagt die zweite Vorsitzende. Mit dem Geld finanziert der Pfad für Kinder beispielsweise Zuschüsse zum Führerschein für Pflegekinder, die (wie berichtet) als Auszubildende 75 Prozent ihres Lohns ans Landratsamt abführen müssen, als Rückzahlung staatlicher Leistungen, die ihre Pflegeeltern erhalten haben.
Die Selbsthilfegruppe setzt sich dafür ein, dass Pflegeeltern der Umgang mit den Pflegekindern erleichtert wird, beispielsweise dadurch, dass es in der Anfangszeit zu keinem Kontakt zwischen den leiblichen Eltern und ihren Kindern kommt. Andererseits bräuchten Eltern aus Sicht des Pfads für Kinder mehr psychologische Hilfe, um ihnen das Loslassen der Kinder zu erleichtern. Was Pflegeeltern fehlt, ist die Sicherheit, dass die Beziehung, die sie zu den Pflegekindern aufbauen, nicht abrupt endet, wenn die leiblichen Eltern auf ihr Sorgerecht pochen und ihre Kinder zurückholen. Pflegeeltern verstehen sich nicht nur als Notlösung.
Der Pfad für Kinder unterstützt aber auch Pflegeeltern, die die Notbremse ziehen und Pflegekinder „zurückgeben“, wenn es zwischen ihnen überhaupt nicht klappt, oder wenn deshalb der Zusammenhalt der eigenen Familie gefährdet ist.
Notizen zum Pfad für Kinder
Über die Gruppe: Ziel des Pfads für Kinder – sowohl beim Dachverband auf Bundes-/Landes- als auch auf Kreisebene – ist es, die Lebensqualität von Pflege- und Adoptivkindern zu verbessern. Die Selbsthilfegruppe informiert über verhaltensgestörte, entwicklungsverzögerte, traumatisierte, sucht- und psychischkranke Kinder. Hierzu bietet die Gruppe, die es im Haßbergkreis (Sitz: Maroldsweisach) seit dem Jahr 2000 gibt, Beratungsgespräche für Pflege- und Adoptiveltern und Fachvorträge an und gibt Hilfestellung zu Behandlungsmöglichkeiten. Alle zwei Monate werden Familientreffen angeboten, ebenso einmal im Jahr ein Ausflug. Der Termin des nächsten Treffens wird nach der anstehenden Neuwahl des Vorstands festgelegt. Kontakt zur Gruppe: Ansprechpartnerin ist aktuell die zweite Vorsitzende, Doris Greul, Tel. (0 95 24) 78 82; E-Mail: pfad.kinder-has@gmx.de, Internet: www.pfad-hassberge.de Weitere Infos: PFAD Bundesverband, Oranienburger Straße 13-14, 10178 Berlin, Tel. (030) 94 87 94 23, E-Mail: pfad-bv@t-online.de, Internet: www.pfad-bv.de