Ihr Ärger über die Umstände ist auch im Telefongespräch deutlich spürbar: „Das Schlimmste ist, dass ich nicht in das Zimmer meiner dementen Mutter darf und ihren Schrank aufräumen kann“, sagt Melanie Wittmann erbost. Die Frau aus dem Landkreis Bamberg macht dem AWO-Seniorenzentrum Gartenstadt, in dem ihre 80-jährige Mutter lebt, heftige Vorwürfe: „Ich darf sie nur ein Mal in der Woche besuchen. Wenn ich mit ihr draußen spazieren gehe, muss sie fünf Tage in Quarantäne. Mir kommt das vor wie wegsperren. Der Hausmeister ist bei jedem Besuch dabei und kontrolliert den Abstand“, sprudelt Melanie Wittmann, flankiert von ihrem Ehemann Heiner, der sich in das Gespräch einbringt. Und zwar „geschockt von den massiven Einschränkungen“, wie er sagt, die das AWO-Heim den Bewohnern und Angehörigen auferlege.
Die Wittmanns heißen nicht so, wollen ihren richtigen Namen aus „Angst vor einem Hausverbot“ nicht veröffentlicht wissen. Das Ehepaar berichtet von „mehreren Angehörigen“, die sich „wegen der AWO“ an die Heimaufsicht gewandt hätten. Denn Maske, Abstand, Begegnung nur durch eine Glasscheibe seien nicht mehr nachvollziehbar, „wo doch fast alle Bewohner zum zweiten Mal geimpft ist“, meint Melanie Wittmann.
Sorge der Angehörigen wird ernst genommen
Diese Redaktion konfrontiert Rainer Volkmann, Leiter des AWO-Seniorenzentrums, mit den Vorwürfen. Er bleibt ruhig: „Ich verstehe Angehörige, die sich Sorgen machen und nehme Kritik ernst.“ Die Anklagen von Frau Wittmann entkräftet Volkmann jedoch mit klaren Fakten. Jeder Bewohner könne ein Mal täglich – also nicht wie behauptet wöchentlich - von einem Angehörigen besucht werden. Der dafür erforderliche Schnelltest werde an drei Tagen in der Woche kostenlos im Seniorenzentrum angeboten.
Kein Bewohner, der mit Angehörigen zum Spazieren in den Garten gehe, müsse in Quarantäne. Diese sei lediglich für drei Tage erforderlich, wenn der Bewohner für mehrere Stunden nach Hause oder zum Arztbesuch geholt werde. „Wir haben gar keinen Hausmeister“, erklärt Rainer Volkmann zu dem Vorwurf der Kontrolle: „Angestellte der AWO-Tagespflege warten vor den Besucherräumen, um nach Ende des Aufenthaltes alles zu desinfizieren.“
Der Heimleiter bittet um Verständnis, dass demente Bewohner nicht im „sensiblen, geschützten Bereich besucht werden können“. Denn diese Personen könnten zum Beispiel nicht den Sicherheitsabstand verstehen. Bettlägerige Bewohner und Sterbende hingegen dürften in ihren Zimmern aufgesucht werden.
Beschäftigungsprogramme auch während der Pandemie
„Ich appelliere an die Vernunft der Angehörigen, auch ein Geimpfter kann Träger des Virus sein“, bittet Rainer Volkmann um Rücksichtnahme und Einsicht, was das Maskentragen und den Abstand anbelangt. Und er wehrt sich gegen die in der Öffentlichkeit oft zu hörende Auffassung, dass „die alten Leute in den Heimen weggesperrt werden und vereinsamen“: „Jeder sieht in seinem normalen Tagesablauf auf seiner Station zwölf bis 20 Mitbewohner, mehrmals am Tag Pflegepersonal, Therapeuten und andere.“
Es gebe Beschäftigungsprogramme oder die Chance, mit Angehörigen via Skype in Kontakt zu treten. „Die Vereinsamung findet dort statt, wo alte Menschen allein in Wohnungen leben“, betont Volkmann und fügt hinzu: „Die Angehörigen leiden mehr als die Bewohner.“ Und zudem gebe es viele Bewohner, „die haben vor Corona keinen Besuch von Angehörigen oder gesetzlichen Betreuern bekommen, und jetzt erst recht nicht“.
Der AWO-Heimleiter schildert Erfahrungen, die Kolleginnen in Bamberg teilen. Es sei „eine irrige Annahme, dass die Senioren alleine im Zimmer sitzen und nur an die Wand starren“, sagt etwa Christine Lechner, Leiterin des Diakonie-Seniorenzentrums Albrecht Dürer. Sie ärgere sich über solche Schlagzeilen, da in einer Senioreneinrichtung „die soziale Betreuung im Vordergrund steht und nicht nur die Pflege“.
Viele Angehörige haben Verständnis für die Arbeit der Heime
Der weitaus größte Teil der Angehörigen, für die es im Albrecht-Dürer-Heim kostenlose Schnelltests gibt, habe Verständnis „für unseren Weg in der Pandemie“. Und zu diesem Weg gehörten eben die Hygienevorschriften. Aber auch – so gesteht Christine Lechner – sicher die eine oder andere Umarmung, „obwohl die ja eigentlich nicht erwünscht ist“. Jedenfalls gebe es keine Kontrolle bei Besuchen von Angehörigen: „Niemand vom Haus ist als Anstandswauwau dabei!“
„Anprangern und reinbohren ist das“, bemerkt Barbara Blecha, Leiterin des Caritas-Altenpflegezentrums St. Otto, zu ungerechtfertigten Anschuldigungen. Natürlich „kann eine Pflegekraft nicht die Tochter ersetzen“, räumt Blecha ein und versichert im gleichen Atemzug, dass sich das Pflegepersonal intensiv um jeden einzelnen kümmere, insbesondere um die Bewohner, „die nie Besuch bekommen“. In diesen Zeiten sei es zudem unabdingbar, „vor jeder Art von Corona-Drama zu schützen“. Und das geschehe in jeder Senioreneinrichtung zunächst nach den staatlichen Vorgaben, „über die wir uns nicht hinwegsetzen können“, so Blecha.
Bedrückende Lage durch besuchsbeschränkungen
Tatsächlich regelt die bayerische 11. Infektionsschutzmaßnahmeverordnung in der Fassung vom 1. März 2021 die Besuche in Alten- und Pflegeheimen. Jeder Träger kann jedoch das Hausrecht ausüben und bei einer besonderen Infektionslage individuelle Maßnahmen ergreifen. Dies geschehe in der Regel „im Austausch mit den Ansprechpartnern bei uns im Gesundheitsamt“, erklärt Frank Förtsch, Pressereferent des Landratsamtes, auf Nachfrage.
Mit Sorge verfolgt Udja Holschuh die durchaus auch bedrückende Lage, in die alte Menschen durch die Besuchsbeschränkungen geraten können: „Ich wünsche mir mehr Möglichkeiten für die Bewohner von Seniorenheimen“, sagt die Kreisgeschäftsführerin des Sozialverbandes VdK-Bamberg. Nach den zweiten Impfungen seien „deutliche Lockerungen und ein zeitnaher Normalbetrieb möglich“, meint Holschuh, zumal es auch die für Besucher vorgeschriebenen Schnelltests gebe. Sie hoffe auf eine „größere Ausgewogenheit zwischen Bewohnerrechten, Gesundheitsschutz und sozialem Miteinander“, die bereits auch von der Bundesregierung und vom Deutschen Ethikrat so gefordert wurden.
Bessere Kommunikation mit den Angehörigen
Und auch auf „bessere interne Kommunikation in den Heimen wie auch mit den Angehörigen, damit Mitarbeiter zum Beispiel nicht unterschiedliche Auskünfte zur gleichen Sache geben“. Die VdK-Vertreterin will jedoch keineswegs die Häuser an den Pranger stellen. Allerdings müsse sorgfältig darauf geschaut werden, dass „freiheitsentziehende Maßnahmen wegen der Pandemie nicht mehr zum Tragen kommen“, so Holschuh. „Einem Rollstuhlfahrer, der geschoben werden muss, muss es ebenso ermöglicht werden wie einem mobilen Heimbewohner, ohne Beschränkung das Haus zu verlassen und von einem Angehörigen spazierengefahren zu werden.“