Schon vor einigen Jahren hat er den europäischen Teil Russlands von Nord nach Süd, von Sankt Petersburg über Moskau und Wolgograd bis zum Kaspischen Meer durchquert. Er hat es sich zum Prinzip gemacht, immer von einem Punkt loszufahren, wo er mit dem Fahrrad schon einmal gewesen war. Dadurch kann er inzwischen auf ein riesiges zusammenhängendes „Streckennetz“ verweisen, das er schon erfahren hat.
Nun startete er von Woronesch aus ostwärts. Ziel ist der rund 6000 Kilometer entfernte Baikalsee. Nach rund 500 Kilometer erreicht er die rund drei Kilometer breite Wolga bei Saratow, Hauptstadt der ehemaligen Autonomen Republik der Wolgadeutschen. Bis zu den Deportationen im Zweiten Weltkrieg lebten hier zahlreiche Russlanddeutsche, die auch in der Architektur der Stadt bis heute ihre Spuren hinterlassen haben.
Prächtiger Jugendstil
Die gesamte Altstadt ist sehr malerisch und es gibt zahlreiche prächtige Gebäude-Ensembles im Jugendstil, so etwa in der ehemaligen „Deutschen Straße“ (Uliza Nemezkaja).
Durch die benachbarten Städte namens Engels und Marx fährt Manfred Wagner dann weiter in Richtung Ural. Mit Schlaglöchern übersäte Straßen, gerissene Bremszüge am Fahrrad, leichte Berührungen durch überholende Lkw und die nicht enden wollenden Berge des Uralgebirges bringen den Radler fast an den Rand der Verzweiflung.
Einen kleinen Adrenalin-Schub erlebt Wagner dann beim Überschreiten der Trennlinie zwischen Europa und Asien kurz vor Ekaterinburg, der Hauptstadt des Ural. Die geschichtsträchtige Millionenstadt, bis 1991 Swerdlowsk noch genannt, ist die viertgrößte Stadt Russlands. Sie wurde weltweit bekannt, weil die Bolschewiki hier 1918 den letzten Zaren Nikolaus II. mitsamt fast seiner gesamten Familie ermordeten.
Stadt des Boris Jelzin
Die Kathedrale des Blutes, die an dieser Stelle errichtet wurde, ist mittlerweile fast zum Wallfahrtsort für Touristen aus aller Herren Länder geworden. Der berühmteste Sohn der Stadt ist zweifellos Boris Jelzin, der erste frei gewählte Präsident Russlands, der maßgeblich an der Auflösung der Sowjetunion beteiligt war.
Bei seiner Weiterfahrt erlebt der Holzhäuser Radfahrer Sibirien erstmal von seiner schönsten Seite: freundliche Menschen und Landschaften wie aus dem Bilderbuch. Unzählige Schäfchenwolken am azurblauen Himmel, malerische Birkenwäldchen und das frische Grün der Wiesen begleiten ihn tagelang. Während er unterwegs oft in der freien Natur im Zelt übernachten muss, findet er in den großen Städten Tjumen, Omsk, Novosibirsk und Irkutsk private Unterkünfte. Dies verschafft ihm einen tiefen Einblick in die Wohn- und Lebensverhältnisse der Menschen. Er trifft durchwegs auf intelligente und weltoffene Menschen, die ehrgeizig ihre Ziele verfolgen.
Auf den Spuren von Lenin
Überall findet er auch die Spuren der jüngeren Geschichte. In Omsk und Krasnojarsk trifft er auf die Spuren des Dichters Fjodor Dostojewski und des Revolutionärs Wladimir Iljitsch Uljanow, besser bekannt unter seinem Kurznamen Lenin.
Omsk war im 19. Jahrhundert Verbannungsort für Dissidenten und Feinde des Zarenregimes. Erst auf dem Richtplatz von Zar Nikolaus I. begnadigt, verbrachte der Nationaldichter Dostojewski vier Jahre seines Lebens in der Verbannung in Sibirien.
In Krasnojarsk liegt am fünf Kilometer breiten Fluss Jenissei der restaurierte Flussdampfer „St. Nikolai“, mit dem Lenin 1897 stromaufwärts in Richtung Eismeer in die Verbannung gebracht worden war.
Kurios mutet das Stadtbild von Irkutsk an, wo das alte Zarendenkmal für Alexander III. am ehemaligen Standort wieder errichtet wurde, in Sichtweite des kolossalen Monuments von Lenin, den die jungen Leute ob seines ausgestreckten Armes als „the great hitchhiker“ verspotten.
Auf die Frage, was „das Schlimmste in Sibirien“ gewesen sei, sagt Wagner: „Das Schlimmste war das Kleinste: Ganz Sibirien ist verseucht mit unzähligen Schwärmen von Stechmücken“. Sobald er mal anhält, um zu trinken, ein Foto zu schießen oder kurz hinter einem Busch zu verschwinden, sind sie da und stechen ohne Vorwarnung.
Als er noch weiter in die undurchdringlichen Wälder und Sümpfe Sibiriens vordringt, begleiten ihn die Insekten sogar während des Fahrens. Auch die Straßen verwandeln sich zunehmend in Schotterpisten und die Lastwagen ziehen riesige Staubfahnen hinter sich her. „Ich dachte zeitweise, ich bin mitten drin in der Rallye Paris-Dakar“, erzählt er.
Aber am Ziel seiner Reise, dem – auf Grund seiner spezifischen Windverhältnisse mückenfreien – Baikalsee, wird er nochmals für alle Strapazen belohnt. Die „Perle Sibiriens“ präsentiert sich von ihrer schönsten Seite. Vor steil aufragenden bewaldeten Berghängen an seinen nahe liegenden Ufern und schneebedeckten Gipfeln am Horizont blickt man tief in glasklares, blaugrünes und sauberes Wasser.
Der mit über 1600 Metern tiefste Binnensee der Erde ist ein unvergleichliches Stück Natur. Viele Fischarten, Tiere und Pflanzen haben hier ihr einziges Refugium. In seiner ökologischen Bedeutung ist er vergleichbar mit den Galapagosinseln. Ein Beispiel dafür ist die Baikalrobbe. Für Wissenschaftler ist es immer noch ein Rätsel, wie sich die Tiere vom salzhaltigen Eismeer an das Süßwasser anpassen konnten.
Derzeit neues Projekt
Manfred Wagner bereut keinen Tag seiner Reise, denn auch die Pannen und die Stunden der Verzweiflung und Einsamkeit gehören dazu wie das Salz in der Suppe. Obwohl oder gerade weil er nicht mehr der Jüngste ist, lautet sein Motto: „Träume nicht dein Leben (lang), sondern lebe deine Träume.“
Übrigens: Gerade ist er dabei, seinen nächsten Traum anzugehen: Er unternimmt eine Radreise von Siebenbürgen in Rumänien durch Moldawien bis zur ukrainischen Halbinsel Krim. Zusammen mit seiner Lebensgefährtin Inge Hartmann. „Wir sind ein ideales Team“, sagt er, „mit ihr würde ich um die ganze Welt fahren!“