Am Morgen ist es ihm noch gar nicht gut gegangen. Doch das ist immer so, wenn abends die Selbsthilfegruppe „Lieder für die Seele“ zusammenkommt. Jetzt, kurz bevor es losgeht, geht es Alexander Müller schon besser. Eine Dreiviertelstunde vor Beginn hat er im evangelischen Gemeindehaus in Ebern neun Stühle zu einem Stuhlkreis gestellt, hat Kerzen angezündet. Wenig später sitzt er mit der Gitarre in der Hand auf einem der Stühle. Ein Ordner mit Liedern liegt aufgeschlagen vor ihm. Müller spielt Gitarre und singt. „Mir tut das gut“, sagt er. Und den drei Männern und der Frau, die ihm zuhören, offensichtlich auch. Nach manchen Liedern klatschen sie Beifall.
Doch auf den Beifall kommt es dem Leiter der Selbsthilfegruppe nicht an. „Mein Ziel ist es“, erklärt er, „die Menschen über die Lieder ins Gespräch zu bringen. Sie sollen sich bewegen.“ Man könnte wohl auch sagen: Die Menschen sollen sich trauen, über das zu reden, was sie bedrückt. Die Musik ist hierzu der Schlüssel, der die Tür öffnen soll, hinter der sich viel angestaut hat. Das Konzept geht auf. Diese Erfahrung hat Müller selbst gemacht.
Der Weg, den er in der Selbsthilfegruppe geht, hat viel mit seinem eigenen Leben, seinen Erfahrungen und seiner eigenen Krankheitsgeschichte zu tun. Diese reicht weit zurück. Vor 16 Jahren war der 46-Jährige als Patient in der psychiatrischen Klinik am Michelsberg in Bamberg. Noch heute wird er wegen Depressionen behandelt. Damals hatte er versucht, sein Leben zu beenden.
Während einer Vernissage in den Räumen der Klinik folgte Müller einer spontanen Eingebung, holte eine Gitarre und sang ein Lied, „das irgendwie zur Stimmung gepasst hat“. Schwestern und ein Arzt nahmen dies positiv auf, ermutigten ihn, weiterzumachen mit der Musik, für sich und andere. Und Müller hat etwas erkannt, was ihn bis heute darin bestärkt: Musik bewegt Menschen.
Vier Ordner voller Lieder bringt Müller mit zu den Treffen der Selbsthilfegruppe. So auch an diesem Abend. Doch es gibt ein Lied, das ihm „am wichtigsten ist“, wie er sagt.
Das Lied ist vom Berliner Liedermacher Klaus Hoffmann und trägt den Titel „Mein Weg ist mein Weg“ – und vielleicht nennt Müller das Lied deshalb sein „wichtigstes Lied“, weil es viel von dem enthält, was er in seinem Leben erfahren hat:
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„Da ist keiner, der adieu sagt, der dich hält. Und keiner, der dich grüßt und Fragen stellt. Und irgendwo da draußen in der Nacht, sollst du dich spür'n. Doch alles, was dich ausmacht, ist nur Angst, dich wieder zu verlier'n.“
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Zu Selbsthilfegruppe „Lieder für die Seele“ kann jeder kommen, und wieder gehen, so, wie er möchte. Die Tür ist während der Treffen nicht abgesperrt. Es gibt Treffen, berichtet Müller, die gehen bis spät in die Nacht. Andere enden nach eineinhalb Stunden. Manchmal sitzt vor allem er da und spielt seine Klampfe, genau genommen sind es sogar zwei, die er abwechselnd spielt. Dazu singt er, meistens allein. Doch dann passiert es zwischendurch, dass die anderen im Raum etwas von sich preisgeben, sich etwas von der Seele reden, wie der Leiter der Gruppe erzählt. Wie die alte Frau, schon über 80, die plötzlich von schrecklichen Erlebnissen während des Krieges erzählt.
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„Das ist keiner, der dich auffängt, wenn du fällst. Und der dir jetzt Mut macht, bist du selbst. Und doch in dieser Dunkelheit, stehst du plötzlich im Licht. Zum ersten Mal siehst du es, zum ersten Mal zweifelst du nicht.“
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Die Lieder, die Müller spielt, sind nicht unbedingt bühnenreif. Mal verliest er sich auf dem Liedblatt, mal kommt der Akkord auf der Gitarre nicht ganz astrein. Müllers Gesang ist leicht vernuschelt und erinnert entfernt an Herbert Grönemeyer. Doch wie er die Lieder vorträgt, das ist authentisch. „Ich schäme mich nicht mehr dafür, dass ich nicht singen und nicht Gitarre spielen kann“, sagt er selbst, und stellt sein Licht damit weit mehr unter den Schemel, als nötig.
Müllers Lieder sind wie das Leben derer, die zu ihm in die Selbsthilfegruppe kommen. Da glänzt nicht alles. Und daraus macht Müller auch keinen Hehl. Er sagt den Zuhörern Wahrheiten, die diese eigentlich besser wissen als jeder sonst.
Nur, damit sie es aus seinem Mund nochmals hören. Etwa dies: „Depressionen sind eine tödliche Krankheit.“ Auf solche Sätze folgt das nächste Lied.
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„Mein Weg ist mein Weg, ist mein Weg, und kein Schritt führt dich jemals mehr zurück. Mein Weg ist mein Weg, ist mein Weg, mit Schatten und mit Tränen, mit Lachen und mit Glück. Mein Weg ist mein ureigener Weg.“
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Gitarrespielen hat Müller sich selbst beigebracht, mit Hilfe der Volkshochschule. 20 Jahre ist das jetzt her. Und er übt noch immer, „seit ein paar Jahren auch mit einem Gitarrenlehrer“. Er nutzt die Musik nicht nur innerhalb der Selbsthilfegruppe, die sich seit einem Jahr in Ebern trifft und davor eineinhalb Jahre lang in Pfaffendorf beheimatet war. Er hat schon mehrfach Benefizkonzerte organisiert und mitgestaltet.
Eines seiner größten Konzerte war vor knapp zehn Jahren, als er in Rabelsdorf kurzfristig ein Konzert mit Bamberger Kneipenmusikern innerhalb weniger Tage auf die Beine gestellt hat, um Geld für Schulpatenschaften für afrikanische Kinder zu sammeln. 22 000 Euro kamen zusammen.
Ein Ziel möchte Alexander Müller gerne aus den Reihen der Selbsthilfegruppe heraus verwirklichen: die Gründung einer Band, die im gesamten Raum Schweinfurt, Coburg, Bamberg Konzerte gibt, beispielsweise in Kirchen.
Hierzu sucht er Mitstreiter von außerhalb. „Jemanden, der Schifferklavier spielt, bräuchten wir, und am liebsten noch eine Oboe“, sagt er. Auch ein Geldgeber, der den Kauf einer Musikanlage auf Kreditbasis ermöglicht, wäre für Müller ein wahres Geschenk.
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„Und wie von selbst wird alles um dich leicht. Die Härte schwindet und dein Herz wird weich. Und plötzlich siehst du Augen, die dir Liebe geben woll'n, Gesichter, die dich anschauen, die dich wie einen Gast nach Hause holen.“
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Müller ist keiner Träumer. „Mit einem Lied ist es nicht getan, das löst keine Blockade“, stellt er zudem fest, was innerhalb der Selbsthilfegruppe geschieht.
Und doch erfährt er dort immer wieder, wie es Menschen nach den Treffen, die unter keinem bestimmten Thema stehen, die für alles offen sind, besser geht, wie sich Menschen mit Ängsten, oder etwa die blinde Frau, die regelmäßig kommt, danach besser fühlen – für ein paar Tage, oder nur für ein paar Stunden. Doch immerhin. „Das ist dann ein Gewinn, auch für mich“, meint Müller. Oder wie Klaus Hoffmann am Ende seines Lieds singt:
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„Und wie von selbst wird alles in dir warm, und ruhig bist du, liegst in deinem Arm. Die Mauer ist zerbrochen, die Mauer ist entzwei, und wo sonst nur die Angst war, ist das Kind auf einmal vogelfrei.“
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Meistens hört die Gruppe den Liedern zu, die Müller spielen möchte. Er wählt sie aus. Es ist kein Wunschkonzert. Doch dann sagt ein Mann aus der Runde: „Spiel mal ein Lied, wo alle mitsingen können.“ – „Gibt's nicht“, sagt Müller. Er meint damit wohl: Das Lied, das für alle passt, das gibt es nicht. Doch dann gibt er nach und spielt einen Evergreen, bei dem alle einstimmen: „Über den Wolken“ von Reinhard Mey.
Die Selbsthilfegruppe „Lieder für die Seele“ trifft sich jeden zweiten Donnerstag im Monat um 19.30 Uhr im evangelischen Gemeindehaus in Ebern, Lützelebener Straße 8. Nächster Termin ist der 9. Februar. Deren Leiter, Alexander Müller, ist erreichbar unter Tel. (0 95 35) 18 87 96 oder per E-Mail an ja-leben@web.de