Pogrom – ein schwierig auszusprechendes Wort für ein unmenschliches Geschehen. Die Welle der Zerstörung am 9. und 10. November 1938 machte auch vor den jüdischen Landgemeinden in den Haßbergen nicht halt. Ein Beispiel aus dem Oberland zeigt, wie nationalsozialistische Hetze schon in den Jahren zuvor den Boden bereitet hatte – für einseitige Ausgrenzung und Gewalt. Es unterstreicht aber auch: nicht alle ließen sich von dieser Hetze mitreißen.
„Ermershausen war ein sehr schöner und gemütlicher Ort, damals 600 Einwohner (…). Die Zahl der jüdischen Einwohnerschaft war ca. 70 vor der nationalsozialistischen Machtübernahme. Alle Einwohner lebten sehr friedlich miteinander.“ Aus dem Bericht, den Fred Berger 1981 für den damaligen Landrat Walter Keller verfasst hatte, spricht die Verbundenheit mit seinem Heimatort. Als Manfred Zeilberger war er am 3. Juni 1920 in Ermershausen geboren worden und mit 17 Jahren nach Amerika ausgewandert.
Lange gutes Miteinander
Immer wieder kommt er in seinem Bericht auf das Miteinander in der Zeit vor dem Aufkommen des Nationalsozialismus zu sprechen. „In diesem Ort war eine Gemeinschaftlichkeit der Einwohner, Juden und Christen. Wenn die Kirchweihe war oder wenn ein jüdischer Feiertag war. (…) Alle umgebenden Gemeinden waren Freunde der Juden, kauften und verkauften von ihnen und an sie. (…) Samstagnacht und am Sonntag waren Tänze und Kartenspiele, die von allen Religionen besetzt wurden.“
Über eine gemeinsame Schafkopfrunde berichtete auch diese Zeitung in einer Notiz am 2. Mai 1928. Die Einheit der Religionen galt laut Fred Berger für Ermershausen genauso wie für die umliegenden Gemeinden. „Ihre Pfarrer und Rabbiner waren sehr verbunden miteinander.“
Dass seine Erinnerungen nichts Verklärendes an sich haben, bestätigen die Nachforschungen von Cordula Kappner. Beispielsweise berichtete Dr. Stephen Lowenstein aus den Erinnerungen seiner Großeltern und seiner Mutter, dass der Gesangverein auch jüdische Mitglieder hatte und die Juden den Neujahrsgottesdienst der Christen besuchten.
Christen auf der Frauenempore
Die Hochzeit von Bergers Eltern Leopold und Sophie sei ein Ereignis für das ganze Dorf gewesen: „Christen saßen auf der Frauenempore und verfolgten gespannt die Vorgänge bei der Hochzeitszeremonie.“ Das Miteinander erstreckte sich auch auf die Kommunalpolitik: Von 1919 bis zum März 1933 war die jüdische Bevölkerung Ermershausens mit zwei Sitzen im Gemeinderat vertreten.
Das braune Gedankengut begegnete dem jungen Manfred Zeilberger vor allem in Gestalt von Siegfried Arnold, der 1930 als Lehrer nach Ermershausen kam und von 1933 bis 1935 auch Bürgermeister des Ortes war. „Ein auswärtiger Nazi“ schreibt er über ihn.
Kinder aufgehetzt
Arnold habe die christlichen Kinder gegen die jüdische Bevölkerung aufgehetzt. „Wir Kinder sind aufgewachsen wie Brüder und Schwestern, spielten zusammen, arbeiteten miteinander, waren auf dem Sportplatz zusammen und pflückten Heidelbeeren im Walde in Harmonie.“ All das habe Arnold beenden wollen. Auch habe er sich dagegen gewandt, dass Juden als Gäste bei Trauungen in der Kirche dabei waren.
Anfangs sei Arnold noch machtlos gewesen, „da Juden und Christen sich besser kannten“. Die Einheimischen hätten ihn sogar hinauswerfen wollen. „Aber er brachte neue Nazis aus Städten als Hilfe, um die Leute aufzuhetzen.“ Damit nahm das Unheil seinen Lauf: „Dann wurden Fenster in unseren Häusern eingeschlagen und Juden belästigt. Unsere Synagoge wurde mit Hakenkreuzen beschmiert und der jüdische Lehrer als erster 1933 verhaftet und ins Gefängnis gesteckt, um der Bevölkerung zu zeigen, dass wir nichts wert sind. Die meisten Leute glaubten es nicht, aber die Gewalt wurde jeden Tag stärker.“
Hetzartikel im „Stürmer“
Zudem griff Siegfried Arnold dem Bericht zufolge die Familie Zeilberger, die einen Viehhandel, eine Metzgerei sowie eine große Landwirtschaft und Pferdehaltung betrieb, auch persönlich an. Durch einen Hetzartikel in der NS-Zeitung „Stürmer“ habe er versucht zu erreichen, dass „die Leute nicht mehr für uns arbeiten. Aber sie liebten uns und konnten nicht Nein sagen, da ich auch sie nie im Stich ließ.“
Schulfreunde waren es, die dem Jugendlichen vorschlugen, auszuwandern. „Sie sagten: ,Manfred, es wird nicht besser für euch, geh nach Amerika!‘“ Und die Umstände taten ein Übriges, den Entschluss reifen zu lassen. „Alles war vorbei in 1935-36. Das Hitlerregime schickte bewaffnete Hetzer überall hin, um die guten Leute von den Juden wegzuhalten.“
1937 ausgewandert
Und auch wenn Manfred Zeilberger das Novemberpogrom nicht mehr selbst miterleben musste: „Was nach meiner Auswanderung in 1937 kam, war viel schlimmer.“
Wie die ungute Saat des Nationalsozialismus aufging und wuchs, lässt sich den Ausführungen von Cordula Kappner in der 1999 erschienen Chronik der Gemeinde Ermershausen entnehmen. Im Zuge des Pogroms – „vorläufiger Höhepunkt der Diskriminierungen und Verfolgungen“ – wurden demnach auch mehrere jüdische Bürger Ermershausens inhaftiert. Das Zerstörungswerk im Ort führten Angehörige der SA aus Coburg zusammen mit Einheimischen aus. Unter anderem vernichteten sie die Inneneinrichtung der Synagoge sowie die Thorarollen und andere Ritualien. Das Bauwerk selbst blieb erhalten.
Es soll aber auch Christen im Ort gegeben haben, die das Vorgehen verurteilten. Einige bewiesen noch mehr Zivilcourage und Mitmenschlichkeit: Ein Taxifahrer brachte mit seinem Auto jüdische Frauen in Sicherheit, versteckt unter einer Decke. Ein Metzger, der bei einer jüdischen Familie arbeitete, stellte sich den Schergen in den Weg. Mit einem Beil in der Hand und drohenden Worten verteidigte er sein Zimmer und die dort verwahrten Wertsachen der Familie. Die Schergen zogen wieder ab. Und selbst als die jüdischen Familien ab August 1939 in zwei Häusern zusammengepfercht leben mussten, versorgten sie einige christliche Familien heimlich mit Lebensmitteln.
Die Schwester nachgeholt
Fred Berger gelang es noch, seine Schwester Ilse nachzuholen und damit vor dem Holocaust zu retten. Sein jüngster Bruder Gerd und seine Eltern jedoch starben 1942 in den Gaskammern von Belzec. Er selbst kam 1945 das erste Mal nach Ermershausen zurück, als Soldat der amerikanischen Armee.
Später hielt er vor allem über den früheren Gemeindeschreiber Heinrich Höhn Kontakt mit seiner Heimatgemeinde und nahm von Amerika aus regen Anteil am Geschehen – nicht zuletzt dem Kampf um die Selbstständigkeit nach der Zwangseingemeindung. 1985 kam er zu einem Klassentreffen in die Haßberge.
Besonders gefreut haben dürfte er sich über ein Geschenk von Betty Franz: einen Bestecksatz, den sie 1939 von Leopold Zeilberger bei dessen Auszug bekommen hatte. Der Vater von Betty Franz hatte damals das Haus der Zeilbergers gekauft.