Dass viele Zeitungsredaktionen ein Archiv haben, in dem all ihre alten Ausgaben aufbewahrt werden, ist erst einmal nichts besonderes. Recht beeindruckend ist allerdings, dass manche dieser Archivbände bis weit ins 19. Jahrhundert, also in die Gründungszeit der meisten Blätter, zurückreichen. Richtig spektakulär wird es allerdings, wenn im Archiv einer Zeitung plötzlich ein alter Archivband einer ganz anderen Zeitung auftaucht, von dem kein Mensch weiß, wie er da überhaupt hingekommen ist. Genau das ist jetzt in Haßfurt passiert.
Am Donnerstag bekam Michael Gerhart, Verlagsleiter bei der Main-Post in Haßfurt, Besuch aus dem hessischen Dieburg. Der Grund: Gerhart hatte die Kollegen vom Dieburger Anzeiger eingeladen, um ihnen einen Archivband aus dem Jahr 1855 zurückzugeben. Wie dieser ausgerechnet im Archiv des Haßfurter Tagblatts gelandet war, bleibt allerdings ein Rätsel. Denn die Stadt Dieburg mit ihren rund 15 500 Einwohnern liegt in der Nähe von Darmstadt, knapp 180 Kilometer von Haßfurt entfernt. Auf eine besondere Verbindung zwischen den beiden Zeitungen gibt es keine Hinweise.
Die Rückgabe war eine Selbstverständlichkeit
Beim Aufräumen in einer Kammer im Verlagsgebäude war Gerhart der alte Zeitungsband in die Hände gefallen. Als gebundenes Buch enthält der Band alle Zeitungsseiten, die 1855 im "Anzeige-Blatt für die Kreise Dieburg und Neustadt" erschienen sind - dem Vorgänger des heutigen Dieburger Anzeigers. Auch alte Ausgaben des Haßfurter Tagblatts werden in ähnlicher Form im Archiv aufbewahrt, doch ein Blick in das Buch offenbarte, dass es sich hier nicht um einen der eigenen Archivbände handelte.
Michael Gerhart rief daraufhin bei den hessischen Kollegen an. "Ich finde es toll, dass Sie uns informiert haben", freute sich Nico Becker, Verkaufsleiter beim Dieburger Anzeiger, der nach Haßfurt gekommen war, um das Archivmaterial seiner Zeitung abzuholen. "Wenn man selbst die Sache schätzt, dann ist das selbstverständlich", entgegnete Gerhart.
Eine aktuelle Ausgabe zum Vergleich
Becker hatte auch eine aktuelle Ausgabe des Dieburger Anzeigers mitgebracht, um zu zeigen, wie die Zeitung heute aussieht, deren 165 Jahre alte Ausgaben Michael Gerhart gefunden hatte. "Seit 1848 Heimatzeitung für Dieburg und Umgebung", steht dort über dem Titel. Der Archivband, der aus ungeklärten Gründen in Haßfurt gelandet war, gehört also zu den ältesten. Damals erschien das Anzeige-Blatt zweimal wöchentlich, nämlich immer dienstags und samstags. Die erste Ausgabe im Archivband stammt demnach vom 2. Januar 1855, einem Dienstag. Auch heute erscheint der Dieburger Anzeiger nicht täglich, sondern dreimal pro Woche, am Montag, Donnerstag und Samstag.
Ein Blick in die 165 Jahre alten Zeitungsausgaben eröffnet einen interessanten Blick in die Geschichte; sowohl, wenn es darum geht, welche Themen damals aktuell waren, als auch mit Blick darauf, wie sich Zeitungen verändert hat. Aus technischen Gründen musste die Zeitung damals noch ohne Fotos auskommen und auch der Umgang mit den Themen war ein anderer: Während heute mehr nachrecherchiert wird und die Journalisten beim Namen genannt werden, veröffentlichte die Zeitung damals vor allem amtliche Meldungen. Die Titelseite des Dieburger Anzeige-Blattes vom 2. Januar 1855 füllt größtenteils ein Gedicht aus, dessen Autor darüber philosophiert, was das neue Jahr wohl bringen werde. Unterzeichnet sind die Reime mit "Der Verleger".
Anzeigen für Auswanderer
Auch die in der Zeitung abgedruckten Werbe-Anzeigen zeichnen ein Bild ihrer Zeit: Armut und politische Unzufriedenheit, besonders nach der gescheiterten Revolution von 1848, trieben gerade in den 1850er Jahren viele Deutsche dazu, ihr Glück in Amerika zu suchen. So inserierten in vielen Ausgaben Schifffahrtsgesellschaften, die Auswandererschiffe betrieben.

Bei ihrem Treffen und der Übergabe des Archivbandes unterhielten sich Michael Gerhart und Nico Becker auch über de aktuelle Situation auf dem Zeitungsmarkt. "Die Wertigkeit der Zeitung hat wieder zugenommen", zeigte sich Becker überzeugt und erhielt dafür Zustimmung von Gerhart. Beide gaben an, beobachtet zu haben, dass in der Corona-Krise wieder mehr Menschen erkannt hätten, wie wichtig zuverlässige Informationen sind.