Früher dachte Vera Kühne, das Leben im deutschen Wohlstand ist der Normalfall. Mittlerweile weiß die Chirurgin, dass das nicht so ist. Bei Einsätzen in Krisenregionen weltweit hat sie viel Elend gesehen. Ein Gespräch über Rettungen in letzter Minute, ihre Erfahrungen mit Flüchtlingen in der Schweinfurter Erstaufnahme und die großen Herausforderungen der Integration.
Frage: Frau Dr. Kühne, als Notfallchirurgin müssen Sie oft in kürzester Zeit Urteile fällen, die über Leben und Tod entscheiden können. Ist das bei Einsätzen in Krisengebieten noch extremer?
Vera Kühne: Hier in Deutschland kann man immer einen Experten anrufen und um Rat fragen. Im Ausland muss man mit sehr begrenzten Ressourcen auch Dinge machen, die nicht zum Fachgebiet gehören. Ich erinnere mich noch gut an eine junge Frau bei meinem ersten längeren Einsatz in einem Buschkrankenhaus im Sudan. Die war vielleicht 14 oder 15 Jahre alt und schwanger.

Das Kind war für den jugendlichen Körper viel zu groß. Sie war im Busch gefunden worden, halb bewusstlos. Sie sagte nur, dass sie seit drei Tagen Wehen hat. Das Kind klemmte im Becken, der Kopf war ganz blau. Es war nicht klar, ob das Kind noch lebt. Ein normaler Kaiserschnitt ging unter den Bedingungen nicht.
Und dann musste eine Entscheidung getroffen werden: Entweder man wartet bis die Frau tot ist und holt dann irgendwie das Kind, oder wir hoffen dass das Kind tot ist und zerren es stückweise da unten raus. Das haben wir dann so gemacht. Ich denke, dass es vorher schon tot war, aber hundertprozentig weiß ich es nicht.
Und hat die Frau es überlebt?
Kühne: Ja, gerade so. Ihre erste Frage war später, wo ihr Baby ist, weil sie es trinken lassen wollte. Das war eine fürchterliche Situation. Man macht sich auf jeden Fall schuldig, egal wie man sich entscheidet. Solche Situationen hatte ich im Sudan ganz oft.
Der Stress ist also ein anderer?
Kühne: Es ist eine andere Belastung. In Deutschland kommt sehr viel Organisatorisches. Ich ärgere mich oft, weil die Ressourcen da sind, aber nicht richtig genutzt werden. In den Einsätzen hat man oft sehr viele Patienten, die lebensbedrohlich krank sind. Und man hat die Ressourcen nicht zur Verfügung. Das ist ein anderes Problem und belastet mich auch anders. Das ist eher so eine Art Ohnmacht oder Verzweiflung, weil man schon mit sehr einfachen Mitteln sehr viele Leute retten könnte. Wir leben hier in so einer „Heile-Welt-Blase“ und denken, das ist die Normalität auf der Welt. Dabei ist es andersrum.
Was tun Sie hier in der Erstaufnahme (EA)?
Kühne: Wir machen hier für das Gesundheitsamt sowohl die Erstaufnahme- und Screening-Untersuchungen, als auch zeitgleich im Auftrag des St.-Josef-Krankenhauses die sogenannte kurative Versorgung, also so eine Art Hausarzt-Praxis. Im Vergleich zum letzten Jahr ist es mittlerweile richtig ruhig. Auch wenn immer noch Chaos entsteht, weil wir zum Beispiel überhaupt keine Übersetzer mehr haben. Das war schon immer ein Problem, aber seit ein paar Wochen sind überhaupt keine mehr da. Das heißt man muss gucken, ob gerade ein Flüchtling da ist, der aushelfen kann.

Wie haben Sie das letzte Jahr in der EA erlebt?
Kühne: Der Hauptschwung kam im August und September. Am Anfang waren immer so 30, 40, 50 Leute da, dann wurden es mehr. Ich weiß, dass ich an einem Tag mal 200 Patienten gescreent habe, nur am Vormittag. Screening heißt, man guckt sie nach bestimmten Vorgaben einmal an, aber es muss natürlich sehr schnell gehen. Es war eine große Herausforderung, aber ich fand es auch toll, wie viele Leute mit wirklich gesundem Menschenverstand an die Sache ran gegangen sind. Die Arzthelferinnen haben zum Beispiel wirklich tolle Lösungen gefunden, wenn einfach nicht genug Platz war und sie zum Beispiel kurzerhand selbst gebrauchte Möbel besorgt haben.
Wie haben Sie hier auf der Station die vielen Menschen in den Griff bekommen?
Kühne: Der Flur war wirklich gestopft voll und es gab mehrere Tage, wo ich die Tür zum Behandlungszimmer aufgemacht habe und 50 bis 100 Leute reingestürmt sind, geschrien haben und behandelt werden wollten. Ich habe dann mit Übersetzern den Leuten erklärt, dass ich nur eine begrenzte Zeit da bin, und wenn alle gleichzeitig reinkommen, ich gar niemanden behandeln kann. Das war nicht möglich. Oft sind die Frauen und Kinder von den Männern beiseite gedrängt worden. Dass die aufeinander keine Rücksicht genommen haben, hat mich ein bisschen traurig gemacht. Wir hatten dann irgendwann Security und auch Hilfe von der Bundeswehr, sprich ich hatte zwei Soldaten vor der Tür. Das hat Eindruck gemacht.
War es ein Problem, dass Sie und die Arzthelferinnen Frauen sind?
Kühne: Nein, als Arzt hat man immer eine Sonderstellung. Auch im Sudan hatte ich nie ein Problem. Die Leute wollen ja was von mir und ich bin die Einzige. Entweder ich behandele sie, oder eben niemand.
Ein Vorurteil ist ja, dass mit den Menschen gefährliche Krankheiten nach Deutschland kommen. Sie müssten es wissen: Ist da was dran?
Kühne: Was man ursprünglich befürchtet hat, dass die Menschen irgendwelche ansteckenden Tropenkrankheiten mitbringen, stimmt nicht. 90 Prozent sind zumindest körperlich gesunde Leute. So hart es klingt: Die, die wirklich krank sind, schaffen es nicht bis hierher. Die Auslese findet im Mittelmeer und in den ungarischen Wäldern statt.
Denken Sie, dass Sie aufgrund ihrer Auslandseinsätze ein besonderes Verständnis für die Menschen in der Erstaufnahme haben?
Kühne: Ja, ich denke schon. Ich kann mir vorstellen, woher sie kommen, wie sie sozialisiert wurden und was sie erlebt haben. So kann ich verstehen, warum sie reagieren, wie sie reagieren, warum es auch zu Auseinandersetzungen kommt. So bin ich letztlich auch hier an den Auftrag gekommen. Die kannten mein Buch und dachten „Die wird das so leicht nicht erschrecken“. Für mich ist das quasi ein Auslandseinsatz im Inland.
Haben Sie den Eindruck, dass sich die Stimmung der Flüchtlinge seit letztem Jahr verändert hat?
Kühne: Die meisten sind junge Menschen, die voller Hoffnung kommen und schnell arbeiten wollen. Sie wollen für sich und ihre Familie eine neue Existenz aufbauen. Ich erinnere mich an eine junge Frau, die war 17 und angehende Krankenschwester. Sie kam an ihrem ersten Tag in der EA her und wollte sofort arbeiten. Am dritten Tag stand sie weinend und sauer vor mir, weil sie noch keinen Sprachkurs machen durfte. Diesen unglaublichen Willen, den habe ich oft gespürt. Aber dass die Leute hier „Geld fürs Warten“ bekommen, das ist für sie eigentlich unvorstellbar und verletzt auch den Stolz. Je länger das geht, desto größer wird die Frustration.
Was muss also passieren?
Kühne: Wir sind zu langsam. Ich glaube, man muss die, die Hilfe annehmen und sich ein Stück weit anpassen, schneller nach vorne bringen. Und mit denen, wo das nicht der Fall ist – das sind nicht viele, aber es gibt sie und sie bringen alle anderen in Verruf –, muss man schneller und härter verfahren. Die sind anders groß geworden als wir. Wenn man immer „Bitte“ und „Könntest du vielleicht mal?“ sagt, funktioniert das nicht.
Ich habe viele Flüchtlinge gefragt, bin mit einigen befreundet. Die sagen alle, dass wir strikter sein müssen. Das klingt hart und unbequem. Aber ich bin überzeugt, dass es keine einfache Lösung geben wird.
Dieser nüchterne Pragmatismus – lag der immer in Ihnen oder haben Sie das über die Jahre gelernt?
Kühne: Beides. Ich finde einfach gerne Lösungen. Mir geht das immer tierisch auf die Nerven, wenn ein Haufen alter Männer tagelang beisammensitzen, es passiert nichts, aber sie hören sich einfach gerne reden. Ich glaube, das ist auch ein Grund, warum ich in die Notfall- und Unfallchirurgie gegangen bin. Das grobe Chaos aufräumen, das kann ich ganz gut. Wenn dann erst mal aufgeräumt ist, wird es mir oft zu langweilig.
Neben Einsätzen für Hilfsorganisationen, bei denen Sie viele Kriegsverletzte versorgen, gehen Sie seit einigen Jahren auch für die Bundeswehr als Feldärztin in den Einsatz. Kein Widerspruch?
Kühne: Man muss es trennen. Wobei es auch verschiedene NGOs gibt. „Ärzte ohne Grenzen“ empfinde ich zum Beispiel als sehr kämpferisch. Ich bin niemand, der neutral bleiben kann. Mich hat die Bundeswehr aber auch gereizt, um mal die andere Seite zu sehen.
Wie kommt es dazu? Was geht in diesen Menschen vor? Ich habe über meinen Mann, der auch bei der Bundeswehr ist, gesehen, dass auch Soldaten idealistisch sein können. Die wollen genauso das Gute bewahren, haben aber eine andere Lösung gefunden. Ich dachte, wenn ich die Möglichkeit habe, das zu erleben, mache ich das.
Aber es gab sicher schon Situationen, in denen Sie innerlich zerrissen waren, oder?
Kühne: Ein Hauptmann in München hat mir vor dem ersten Einsatz klar gesagt, dass ich natürlich im Notfall erst die Soldaten behandeln muss. Dann hat er gefragt, ob ich das kann. Ich konnte das nicht beantworten. Inzwischen weiß ich, dass ich es kann.

Wie haben Sie das erfahren?
Kühne: Ich hatte in Afghanistan einen Fall. Da war ein junger Afghane am Lagereingang, dem hatten sie in den Kopf geschossen. Für mich war klar, der muss beatmet werden und so weiter. Ich habe nach den Sanitätern gerufen und dann sagte der Wachoffizier „Moment mal, das müssen wir erst klären.“ Im Lager müssen nämlich Betten für deutsche Soldaten freigehalten werden und es waren schon zu viele Afghanen drin. Ich habe den Mann notdürftig versorgt und dann haben sie ihn wieder mitgenommen. Er hätte wahrscheinlich ohnehin nicht überlebt, aber für einen Arzt ist das eine beschissene Situation.
In der Erstaufnahme treffen Sie viele Menschen aus Syrien. Würden Sie in der aktuellen Situation auch dorthin gehen?
Kühne: Auf jeden Fall. Ich hatte sogar schon ein tolles Projekt, das hat sich aber zerschlagen. Jetzt werde ich ab November für die Marine mit der SOPHIA-Mission ins Mittelmeer gehen. Nach Weihnachten dann nach Mali, danach eventuell Kamerun.
Haben Sie eigentlich keine Angst?
Kühne: Da bin ich schicksalsergeben. Natürlich könnte ich gemütlich im idyllischen Bamberg bleiben. Aber: Die meisten Menschen sterben im Bett.
Zur Person Dr. Vera Kühne ist Fachärztin für Chirurgie, Notfallmedizin und Tropenmedizin. Als Notärztin ist die 47-Jährige im Landkreis Haßberge und in Bamberg im Einsatz. Schon seit Ende der 90er Jahre hilft sie regelmäßig in Krisenregionen, unter anderem im Südsudan, Haiti, Papua-Neuguinea und Mali. Außerdem ist sie seit zehn Jahren Reservistin bei der Bundeswehr, als Oberstabs- und später Oberfeldärztin war sie mehrfach in Afghanistan. Kühne arbeitet freiberuflich, unter anderem seit 2012 als Chirurgin und Notfallmedizinerin am St. Josef Krankenhaus in Schweinfurt, worüber sich auch ihre Tätigkeit in der ärztlichen Betreuung der Flüchtlinge in der Erstaufnahmeeinrichtung Schweinfurt ergeben hat. Über ihre Arbeit hat sie das Buch „Grenzenlos“ geschrieben, das im Pattloch-Verlag erschienen ist. Nibo