Am 18. Februar 1880 trat Religionslehrer Noah Sichel sein Amt als Religionslehrer in Kleinsteinach im damaligen Landkreis Hofheim an. Er kam mit seiner Familie aus Dornheim, wo er seit 15. Januar 1874 als Lehrer gewirkt hatte.
Noah Sichel wurde am 25. März 1843 im hessischen Meerholz, Altlandkreis Gelnhausen, geboren. Er wohnte mit seiner Familie, Ehefrau und sechs Kindern (eines war früh gestorben), im ersten Stock des Lehrerhauses in Kleinsteinach, Haus Nummer 42. Das Haus ist heute im Besitz der evangelischen Kirche und wird als Gemeindehaus genutzt.
Alte jüdische Geschichte
Der neue Wirkungsort von Noah Sichel, Kleinsteinach, hatte eine alte jüdische Geschichte. Schon im Jahr 1699 werden „43 Köpfe“ erwähnt. Im Jahr 1880, dem Antrittsjahr von Noah Sichel, hatte die Gemeinde 110 jüdische Einwohner von insgesamt 500. Die 1736 erbaute Synagoge und das jüdische Schulhaus bildeten das Zentrum der Kultusgemeinde.
Der nach unbestätigten Quellen bereits 1453 angelegte Friedhof, bestehend aus einem alten und einem neuen Teil, liegt am Rand des Dorfes auf der Höhe mit einem Areal von rund 12 000 Quadratmetern. Im neuen Teil befinden sich circa 710 Grabsteine. Insgesamt waren es nach alten Schätzungen circa 1100 bis 1200 Grabsteine im alten und im neuen Teil, von denen im alten Teil viele im Erdboden versunken sind.
Erste Beerdigung
Distriktsrabbiner Doktor Stein (Distriktsrabbinat Schweinfurt) nannte ihn den „Zentralfriedhof für den Haßfurter Bezirk“. Verschiedene Orte aus den Landkreisen Haßfurt und Hofheim begruben hier ihre Toten. Die erste Beerdigung fand 1596 statt. Der erste lesbare Grabstein stammt aus dem Jahr 1608. Das 1772 angelegte Grabverzeichnis mit dem ersten Eintrag aus 1774 existiert nicht mehr seit der Nazizeit.
Bevor Lehrer Sichel mit seiner ersten Frau Jetta sein Amt in Kleinsteinach antrat, war er von Mai 1868 Lehrer in Oberseemen in Hessen, wo seien Töchter Fanny am 25. Februar 1872 und Rebeka am 14. November 1973 geboren wurden. Fanny starb Ende Juni 1937. Rebeka wurde aus Ichenhausen in das Durchgangslager Piaski deportiert, wo sie verschollen ist.
Vier weitere Kinder
In Dornheim kamen vier weitere Kinder auf die Welt (Betty geboren 1875, deportiert 1942 aus München in das Zwischenlager Piaski , Löw, geboren und gestorben 1876, Max, geboren 1877, gestorben 1925 in Burghaslach, Ida geboren 1879, gestorben 1939 in den USA).
Danach zog Familie Sichel nach Kleinsteinach. Dort starb Jette Sichel nach vier Jahren 1883 im Alter von 41 Jahren. Ihr Grab auf dem Friedhof in Kleinsteinach ist nicht mehr auffindbar.
Noah Sichel stand mit seinen fünf Kindern allein da. Er heiratete ein zweites Mal. Seine zweite Frau war Karolina Neumann, geboren 1854 in Külsheim, die 1886 die Tochter Klara zur Welt brachte. Karoline Sichel und ihre Tochter Klara wurden im Holocaust ermordet. Karoline Sichel lebte zuletzt in Würzburg. Sie wurde am 23. September 1942 aus Würzburg in das Ghetto Theresienstadt deportiert und kam dort am 10. Dezember des gleichen Jahres ums Leben. Ihre Tochter Klara wurde von Würzburg am 25. April 1942 in das Zwischenlager Izbica oder Krasniczyn deportiert und in den Gaskammern des Vernichtungslagers Sobibor ermordet.
Lehrer Sichel wird als eine bekannte und geachtete Persönlichkeit beschrieben. Liese Nohel in Haifa, geborene Droller aus Kleinsteinach, erinnert sich noch lebhaft an die Erzählungen ihres Vaters, der bei Lehrer Sichel in die Schule gegangen war. „Mein Vater hatte Freude am Lesen, an schönen Dingen, an jüdischen Dingen – alles das durch Lehrer Sichel. Er hat den Kindern Benehmen beigebracht. Alles was ich bin, bin ich durch Lehrer Sichel geworden, alles, was sich an Erziehung bekam, habe ich Lehrer Sichel zu verdanken. Er war das jüdische Kulturzentrum von Kleinsteinach.“
Lehrer Noah Sichel starb am 15. Juni 1914 in Kleinsteinach im Alter von 71 Jahren und liegt auf dem jüdischen Friedhof in Kleinsteinach begraben. Im Jahr 2006 besuchte sein Urenkel Lehrer Menachem Sichel aus Bnei Brak bei Tel Aviv mit seiner Frau Bathseba und seiner Schwester Pnina das Grab des Urgroßvaters. Sie beteten und legten als Zeichen ihres Besuches kleine Steine auf den Grabstein, gemäß einem alten jüdischen Brauch.
Schriftliche Zeugnisse
Menachem Sichel war nicht zum ersten Mal in Kleinsteinach und in der ehemaligen Wirkungsstätte, dem jüdischen Schulhaus. Dort waren schriftliche Zeugnisse aus dem Leben der Gemeinde wie Gebetbücher gefunden worden, aus denen vielleicht Noah Sichel gebetet und gelehrt und gesungen hat. In Begleitung des evangelischen Kirchenvorstandes konnte Familie Sichel einen Blick in die ehemalige jüdische Schule werfen, in der nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges Flüchtlingsfamilien aus dem Sudetenland untergebracht waren. Ein Junge von ihnen erinnert sich noch an das „sehr schlechte Gewissen“ der einheimischen Bevölkerung und dass die Jungen ungehindert auf dem Friedhof ihre Abenteuerspiele machen und Tiere beobachten konnten.
Eine Gedenktafel am Gebäude weist heute auf das ehemalige jüdische Schulhaus hin.
Die letzten jüdischen Einwohner in Kleinsteinach waren im Jahr 1942 Familie Moritz und Meta Neumann mit ihren 18- und elfjährigen Kindern Irmgard und Erich und ihrer Großmutter Sophie Grünbaum. Der Sohn Walter hatte nach Großbritannien emigrieren können. Familie Neumann wurde, wie Klara Sichel, aus Würzburg 1942 in das Zwischenghetto Izbica oder Krasniczyn bei Lublin deportiert und in Sobibor vergast. Sophie Grünbaum kam im Ghetto Theresienstadt am 22. September 1942 ums Leben, nachdem sie in das jüdische Sammellager in der Schweinfurter Rückertstraße hatte ziehen müssen. Am 10. September 1942 wurde sie aus Würzburg nach Theresienstadt deportiert.
Jüdische Spuren
Was ist heute noch an jüdischen Spuren in Kleinsteinach erhalten?
• Eine Gedenktafel am Platz der ehemaligen Synagoge, deren Inneneinrichtung am zehnten November 1938, dem Novemberpogrom, zerstört wurde. Die kostbaren Teppiche und Silberleuchter sind bis auf den heutigen Tag verschwunden. Das im Pogrom erhalten gebliebene Gotteshaus wurde nach dem Krieg von der evangelischen Gemeinde erworben und abgerissen.
• Das jüdische Schulhaus, in dem Lehrer Sichel die Kinder erzog und mit seiner Familie auch wohnte.
• Der Friedhof, der heute geschlossen ist, dessen letzte Tote keinen Grabstein haben, wo Grabsteine zerstört wurden und nichts mehr an die Toten erinnert. Zwei russische Zwangsarbeiter aus dem Arbeitskommando Haßfurt und der im Februar 1945 in Haßfurt erschossene italienische Fremdarbeiter Guiseppe Fava wurden hier begraben.
• Das jüdische Standesregister von Kleinsteinach im Staatsarchiv Würzburg, in das der katholische Pfarrer des Ortes bis um 31. Dezember 1875 (1876 Gründung der Standesämter ) sämtliche jüdischen Eheschließungen, Geburten und Todesfälle einzutragen hatte, das von der Gestapo abgeholt wurde und von dem der Pfarrer bis zum Abend vor dem Abholen noch eine Abschrift anfertigte.
Die Gräber auf dem Friedhof erinnern an die Familien, die seit Jahrhunderten hier lebten und ihre Toten begraben haben.
Der Platz für ihre Nachkommen ist leer geblieben.
Zum Tag des offenen Denkmals am kommenden Sonntag ist der Friedhof geöffnet. Eine Führung ist um 14 Uhr. Über die Geschichte des Friedhofs referiert Cordula Kappner, über das Beerdigungsbrauchtum Israel Schwierz, über die jüdischen Familien und ihre Grabsteine Thomas Schindler.