Ihre Lebensgeschichten wachsen, dehnen sich aus und greifen ineinander über: "Wir leben unser Leben in wachsenden Ringen, die sich über die Dinge ziehn", heißt es in einem Gedicht von Rainer Maria Rilke. Der irische Schriftsteller Colum McCann zitiert ihn in der Vorbemerkung zu seinem Roman "Apeirogon", ein ebenso politisches wie poetisches Epos über den Palästinakonflikt. Die Geschichte von McCanns Protagonisten Rami Elhanan und Bassam Aramin steht für unzählige andere. Rilkes Lyrik setzt sich mit den Zeilen fort: "Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen, aber versuchen will ich ihn."
Und diesem letzten Lebensring haben sich Rami Elhanan, Israeli, Jude, 1949 geborener Jerusalemer in siebter Generation, und Bassam Aramin, Palästinenser, Muslim, Araber, 1969 in einem Dorf nahe Hebron im Westjordanland geboren, mit Herzblut verschrieben. Diese beiden Männer so unterschiedlicher Herkunft nennen sich nach eigenen Worten Brüder: "Wir brauchen keine Worte, um uns zu verstehen." Geschwister, die Trauer und Schmerz verbindet wie der feste Wille, die Spirale von Angst, Hass und Gewalt in ihrer Heimat zu durchbrechen. Für Frieden und Versöhnung zu kämpfen. Denn "es steht nirgends geschrieben, dass sich Israelis und Palästinenser gegenseitig umbringen müssen".
In der Stephanikirche fallen Sätze, die weh tun
An diesem Sonntagabend in der Stephanskirche fallen Sätze, die weh tun. Die nachdenklich stimmen und nachhallen. Unter der Moderation von Pfarrerin Mirjam Elsel geben die beiden Gäste aus Nahost dem Titel der Veranstaltung Farbe: "Gemeinsam für Verständigung und Versöhnung – Parents Circle – ein Friedensprojekt von jüdischen und palästinensischen Familien". Viele Besucher waren der Einladung des Bildungsstandorts Bamberg der Evangelischen Erwachsenenbildung Oberfranken West in Kooperation mit dem Zelt der Religionen und der Interreligiösen Fraueninitiative gefolgt.
Pfarrer Walter Neunhoeffer liest Passagen aus Apeirogon, einem "Hybrid-Roman" laut Autor Colum McCann, in dem das Meiste erfunden ist, die Geschichten von Bassam Aramin und Rami Elhanan jedoch wahr sind. Beide Väter haben ihre Kinder durch den Feind verloren. Beziehungsweise durch denjenigen, den sie jahrzehntelang als Feind betrachtet haben: "Bis zu meinem 47. Lebensjahr habe ich Palästinenser nicht als menschliche Wesen wahrgenommen", sagt etwa Rami offen, damals stolzer Soldat, der in drei Kriegen kämpfte und dessen Vater der jüdischen Untergrundorganisation Haganah angehörte.
Und Bassam erkennt ausgerechnet während einer siebenjährigen Gefängnishaft – seine Freunde hatten mit zwei Handgranaten einen israelischen Armeejeep beschädigt – das menschliche Antlitz der Besatzer. Vorher hatte er sie nur als Soldaten wahrgenommen, die es zu bekämpfen gilt. Als er 1992 aus der Haft entlassen wird, ist Bassam, der inzwischen Hebräisch gelernt und sich mit dem Holocaust auseinandergesetzt hat, ein anderer Mensch: Er schwört dem bewaffneten Kampf ab. Er gründet 2005 mit anderen ehemaligen Widerstandskämpfern und israelischen Reservesoldaten, die den Dienst in den besetzten Gebieten verweigern, die Organisation "Combatants for Peace". Mitbegründer ist Ramis Sohn Elik. So lernen sich Bassam und Rami kennen. Da hat der Israeli schon bitterstes Leid erlebt.
Beide verlieren im Nahostkonflikt eine Tochter
Seine Tochter Smadar wurde 1997 im Alter von 13 Jahren von drei Selbstmordattentätern der Hamas vor einem Buchladen im Zentrum Jerusalems getötet. Diese entsetzliche Tat wirft Rami nicht völlig aus der Bahn, weil er Yitzhak Frankenthal begegnet, dem Gründer der Organisation „Parents Circle“. Sie vereint derzeit zusammen etwa 600 Israelis und Palästinenser, die Angehörige in diesem Konflikt verloren haben, jedoch den Weg der Versöhnung gehen wollen. Rami erkannte, dass Palästinenser "Menschen wie ich sind, das gleiche Blut, der gleiche Schmerz, die gleichen Tränen". Er tritt "Parents Circle" bei.
Bassam Aramins Tochter Abir starb 2007 im Alter von zehn Jahren vor ihrer Schule durch ein Gummigeschoss, das ein 18-jähriger israelischer Grenzsoldat abfeuerte. Rami erlebte sein Trauma erneut: "Es war, als würde ich meine Tochter ein zweites Mal verlieren", blickt er zurück. Er habe sich gefragt, wie sein Freund Bassam mit diesem Schicksalsschlag umgehen würde: "Wird der Hass zurückkehren?" Nein, dieser bleibt seinem Weg treu: "Vergebung ist wichtig für mich, denn wenn du dich nicht selbst änderst, änderst du die Welt nicht", so Bassam. Es sei "unsere Sache, Seite an Seite zu leben, sonst hinterlassen wir unseren Kindern, den palästinensischen wie den israelischen, nur Gräber".
Hoffnung auf einen Friedensvertrag
Dabei wisse er, dass "die israelische Besatzung Grundlage für den Hass ist". Niemand wisse, "wieviel Blut unsere Politiker noch brauchen, bis sie die Friedensvereinbarung unterschreiben", fügt der Palästinenser hinzu. "Aber eines Tages wird es dazu kommen", hofft er unverbrüchlich.
Und mit ihm Rami, der unmissverständlich die internationale Staatengemeinschaft ins Visier nimmt: "Einem Verbrechen zusehen und nichts tun, ist auch ein Verbrechen." Der Krieg in der Ukraine dauere jetzt etwas über 100 Tage, "die israelische Besatzung 75 Jahre". Beide Männer betonen, dass "Demokratie und Menschenwürde für jeden" da sind. Und dass Juden sich davon befreien müssten, in jedem Kritiker der Israelpolitik einen Antisemiten und Nazi zu sehen.
Rami und Bassan halten in ihrer Heimat und in vielen Ländern Vorträge, werben für Versöhnung und Frieden. "Der Grund, uns zu engagieren, sind unsere Töchter. Das ist eine Wunde, die sich nie verschließt", sagen die beiden Männer, deren Schicksal sie den Nahost-Konflikt überwinden lässt. Auch wenn sie seine Auswirkungen trotzdem tagtäglich spüren.


Buchtipp"Apeirogon" ist ein formvollendeter, grandioser Roman in 1001 Kapiteln auf 600 Seiten. Von den Geschichten Ramis und Bassams ausgehend erzählt Colum McCann von Israel, Palästina, vom beschwerlichen Alltag im Westjordanland, von den Checkpoints, den Wegzeiten zur Arbeit, zur Schule. Der Roman geht auch historisch in die Tiefe vom Holocaust bis hin zu den drei Intifadas. In der Mitte des Werkes gibt es aus der Ich-Perspektive Selbstporträts von Rami Elhanan und Bassam Aramin.Alles in allem ist Apeirogon (eine degenerierte geometrische Figur) ein flammender Aufruf zur Aussöhnung im Nahen Osten. Ein kaleidoskopischer Text, der die zeitlose Frage stellt: Wie leben wir weiter, wenn das Liebste verloren ist? Und: Wie kann der Mensch Frieden finden? Mit sich selbst und mit anderen.Das Buch erschien 2020 im Rowohlt-Verlag und ist im Buchhandel erhältlich: Gebunden für 25 Euro, als Taschenbuch für 14 Euro. mkhQuelle: mkh