In diesem Jahr jährt sich zum 100. Mal der Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Nach dem Attentat von Sarajevo am österreichischen Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand erklärt Österreich-Ungarn am 28. Juli 1914 dem Königreich Serbien den Krieg. Am 1. August 1914 unterzeichnet Kaiser Wilhelm II. den Mobilmachungsbefehl, und Deutschland erklärt Rußland den Krieg.
Der Nationalsozialismus und die Schrecken und Folgen des Zweiten Weltkrieges verdrängten in Deutschland die Erinnerungen an den vorausgegangenen Krieg wenige Jahrzehnte zuvor. Doch im Gedenkjahr lenken Gedenkfeiern und Ausstellungen, Medienberichte und Bücher den Blick zurück auf die „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“, wie der Erste Weltkrieg von einigen Historikern bezeichnet wird.
Auf großes Interesse stieß der Vortrag „100 Jahre Erster Weltkrieg“ von Professor Herfried Münkler, einem der renommiertesten deutschen Politikwissenschaftler und Ideenhistoriker. Dieser war beeindruckt von dem gut gefüllten Großen Saal der Stadthalle Haßfurt.
Zum ersten Mal spielten Wissenschaft und Technik eine zentrale Rolle in einem Krieg, erläuterte Münkler. Medizinische Fortschritte sorgten dafür, dass Verletzte immer wieder einsatzfähig waren, und sie verlängerten den Krieg zu vier Jahren des Grauens. „Es war der erste Krieg in der Geschichte, durch den mehr Menschen durch den Feind zu Tode kamen, als durch Seuchen, Krankheiten und Epidemien.“
Drei Konflikte hätten laut Münkler wesentlich zum Ausbruch des Krieges und dessen Ausmaß beigetragen. Zum einen der Kampf um die politische Hegemonie in West- und Mitteleuropa, ausgetragen zwischen Deutschland und Frankreich. Ferner die Frage nach der künftigen Weltordnung – ein Konflikt, der vorwiegend zwischen Deutschland und Großbritannien schwelte. Am brisantesten jedoch sei die Frage nach der politischen Zukunft der Vielvölkerreiche Mittel- und Osteuropas und des Nahen Ostens gewesen. Würden das Habsburgerreich, das russische Zarenreich und das Osmanische Reich gegen die vom Westen her aufkommende Idee der Nation bestehen können?
Neben den auslösenden Faktoren des Krieges beleuchtete Münkler die Fragen, warum es nicht möglich war, den Krieg auf einzelne Regionen zu begrenzen, und warum es nicht gelang, ihn früher zu beenden. Bis Juni 1918 hätten viele deutschen Soldaten an einen Sieg geglaubt. Die nationale Idee sei letztlich allen anderen Ideologien, wie religiösen oder sozialistischen, überlegen gewesen.
Während Münkler eher die weltgeschichtliche Dimension des Ersten Weltkrieges beleuchtet, bringt das Gedenkjahr viele Menschen dazu, nach dem Schicksal ihrer Vorfahren zu fragen und auf Dachböden nach Erinnerungsstücken zu suchen.
Andenken in der Zigarrenkiste
In einer alten Zigarrenkiste bewahrt Hermann Schad aus Lendershausen den Briefwechsel zwischen seinen Großeltern Georg und Luise Schad, seinem Onkel Julius Schad und seinem Vater Karl Schad auf. Der am 13. Juli 1889 geborene Julius Schad wurde durch den Kriegsausbruch „zu den Fahnen gerufen“, wie es in der Kriegschronik 1914 – 1918 der Pfarrei Lendershausen heißt – nachzulesen in der Festschrift von Hans Hermann Dressel zur 200-Jahrfeier der Sankt-Laurentiuskirche. Im ersten erhaltenen Brief, geschrieben von Vater Georg an seinen Sohn Julius am 9. Juli 1915, ist zu lesen: „Deinem Wunsch gemäß schicken wir dir gleichzeitig mit diesen Brief ein Päckchen mit drei Paar Socken, etwas Zucker und Zwetschgen, in der Hoffnung, daß du Solches gesund erhalten und gebrauchen kannst. Dein Päckchen mit den zerrissenen Socken haben wir noch nicht erhalten“.
Es folgen Berichte über das Wetter, den Zustand der Feldfrüchte und der bevorstehenden Ernte: „Die Schnitternte geht nun auch an und kommen hierzu 16 gefangene Franzosen. Auch wir bekommen einen und wollen sehen, wie er sich anstellt“. Auch an den Landsturmmann Karl Schad werden immer wieder Päckchen mit Lebensmitteln geschickt, und tatsächlich kommen sogar Eier unversehrt bei ihm in Antwerpen an, wie Karl am 23. Mai 1916 schreibt: „Die Eier waren alle noch gut. Die Mutter hat sie gut verpackt. Man kann die Eier ganz gut brauchen. Man kann sie auf Wache mittels Gasapparat sieden“. Die Umschläge zu den Briefen fehlen – deshalb lässt sich zu den jeweiligen Aufenthaltsorten wenig sagen.
Vom Kriegsgeschehen berichten die beiden Brüder kaum etwas. Julius teilt Karl, der anscheinend mit dem Landsturmbatallion Bamberg in der belgischen Stadt Verviers ist, am 28. Oktober 1916 mit: „Habe zwar jetzt 10 Tage Ausbildung am MG, welches aber nicht so schlimm ist. Hauptsache ist, daß ich noch gesund und munter bin“. Die Eltern schicken beiden immer wieder Päckchen mit Butter, Fleisch und Wurst und berichten ihren Söhnen vom Alltag in der Heimat: „Gestern war in Hofheim Verstrich von 20 Schweizer Kalbinnen. Habe auch eine um 760 Mark ersteigert. Wenn nicht so kaltes Wetter wäre, würden wir mit dem Bierbrauen beginnen. Wir haben die zwölfte Stelle“, schreiben sie am 9. Februar 1917 an Karl.
Am 13. Juli 1917 schreibt Julius: „Liebe Eltern, heute am 13., wo ich diesen Brief schreibe, dachte ich gerade daran, daß ich heute 28 Jahre alt bin. Welches mein dritter Geburtstag im Feld ist. Möchte hoffen, daß ich den 29. doch einmal zuhause in der lieben Heimat verleben könnte und wir den wohlersehnten Frieden einmal haben werden“.
Aus Julius' Briefen geht hervor, dass sein Bruder Karl zum Etappendienst ausgemustert wurde und anscheinend in Lendershausen für die Gefangenen zuständig ist. „Ich teile euch mit, daß ich Unteroffizier geworden bin“, schreibt Julius am 21. August 1917. „Man bekommt als Unteroffizier 13 Mark und 30 Pfennige.“ Und er erkundigt sich: „Sind von der Kirche noch keine Glocken heruntergekommen?“
Glocken „geopfert“
Damit lag er nicht verkehrt – denn wie in der Festschrift von Dressel zu lesen ist, „wurde am 29. Juli 1917 von der Kirchengemeinde das höchste Opfer gebracht, und infolge der Beschlagnahme wurden drei der vier Glocken am Turm abgenommen“.
In ihrem Brief vom 30. September 1917 berichten die Eltern, wie es Karl bei der Arbeit mit den Gefangenen erging: Einen Franzosen musste er wegen Arbeitsverweigerung nach Hofheim ins Gefängnis bringen, mit anderen Gefangenen musste er zur Frühmesse nach Hofheim. „Es freute uns auch, daß du das Paket mit den Strümpfen erhalten hast. Es wäre nur zu wünschen, daß der liebe Friede eher einkehren möge als bis die Strümpfe zerrissen sind“. Der Wunsch der Eltern ging nicht in Erfüllung – als sie den Brief schrieben, war ihr Sohn Julius schon tot. „Am 4. Oktober 1917 traf bei den Eltern die schmerzliche Kunde ein, dass er am 27. September bei Gravenstafel durch ein Artilleriegeschoss den Heldentod erlitten habe“, recherchierte Dressel in der Kriegschronik der Pfarrei.