Es ist Sonntagnachmittag, 30. Juni 2019. Andreas Schmitt, der noch nie ein Tier in Obhut hatte, fährt mit seinem Auto zu Hause vor. Der Doppelhausnachbar kommt ihm entgegen. Er hatte auf seiner Terrasse in der prallen Sonne einen Fund gemacht, den er sofort in den Schatten brachte und der offensichtlich Probleme in sich barg. Andere Nachbarn hatten sich schon dazugesellt. Alle schauten auf den Boden. Da war es, das „Problem“. Ein nacktes Vögelchen mit geschlossenen Augen und gelbem Wulst an der Schnabelwurzel lag fast reglos vor ihnen. Die Suche nach einem Nest, um den kleinen Kerl wieder zurückzusetzen, war schon veranlasst worden und bislang ergebnislos verlaufen. Einer der Begutachter wollte das kleine Wesen als Amsel identifiziert wissen, was aber in dieser Notsituation nicht wichtig war.
Nachdenken und beraten war angesagt. Gemeinsam kamen die „Experten“ auf drei Alternativen. Entweder das nackte Vögelchen seinem Schicksal überlassen, vorzeitig erlösen oder von Hand aufziehen. Keiner war kaltherzig genug, um für eine der beiden ersten Lösungen zu plädieren. Beim letztgenannten Vorschlag schauten alle Andreas Schmitt erwartungsvoll an: „Du als frischgebackener Rentner hast doch die meiste Zeit, dich um dieses kleine in Not geratene Tier zu kümmern. Du schaffst das.“
Vor einer schwierigen Aufgabe
Dies war wie eine Abstimmung, die Entscheidung war getroffen, Andreas Schmitt bekam von den Nachbarn den Zuschlag, dem kleinen Vogel zu helfen. Vor seinen Augen tauchten unweigerlich Probleme auf und ihm war klar, dass es sich bei der Handaufzucht um eine schwierige Aufgabe handeln würde, die er nicht so nebenbei einfach würde bewältigen können. Um welche Art von Vögelchen handelt es sich wirklich? Wie sieht dann die artgerechte Ernährung aus? Was macht man mit dem Piepmatz, wenn man unterwegs ist? „Mein Herz sagt ja, aber woher bekomme ich solide Informationen?“
Laut Internet sollen Nestlinge gewärmt, mit Fliegen und getrockneten Mehlwürmer, die im Wasser aufgeweicht wurden, gefüttert werden. Auch die Ehefrau des Finders holte am nächsten Tag Erkundigungen beim Tierarzt ein und brachte ein Aufbaupulver für Jungvögel mit. Dieses bekam der Nestling vorerst als Alleinfutter – und er entwickelte sich prächtig.
Um welche Vogelart es sich handelte, war für Andreas zweitrangig und nur wichtig wegen der Fütterung. „Täglich habe ich ihn gewogen, um sicherzugehen, dass ich mit der Ernährung und Pflege auf dem richtigen Weg war. Am 2. Juli hatte mein Findling eine Krise und zwei Gramm an Gewicht verloren – von 17 auf 15 Gramm. Ich habe mir ernsthaft Sorgen gemacht. Woran kann es liegen, dass der Kleine so schwach ist? Bekommt er zu wenig Flüssigkeit? Mit der Pipette habe ich Wasser zugeführt und er hat sich zusehends erholt“, erzählt Schmitt im Gespräch mit dieser Redaktion.
Nach ein paar Tagen wurde das angerührte Aufbaupulver reduziert und mit Fliegen, Welpenfutter, Blütensamen und Früchten ergänzt.
Da das Vögelchen in der Gottfried-Hart-Straße gefunden worden und vermutlich auch dort geschlüpft war und noch dazu dort wohnt, bekam es jetzt erst einmal den Namen „Harty“ verpasst. Der kleine „Harty“ bestimmte nun das Leben seines Pflegevaters. Von früh sechs Uhr bis zum Abend benötigte er alle dreißig bis vierzig Minuten Nahrung. Nach drei bis vier Tagen hatte sich der Fütterungsabstand auf eine bis eineinhalb Stunden verlängert. Ab dem Fund-Sonntag war Andreas Schmitt, selbst wenn er unterwegs war, nie alleine, denn „Harty“ war in einer ausgepolsterten, kleinen blauen Box immer dabei. Ob im Chinarestaurant, auf der Geburtstagsfeier oder beim Betriebsausflug des letzten Arbeitgebers, des Landratsamtes Haßberge, „ Harty“ wurde immer große Anteilnahme und Interesse entgegengebracht, er war immer mit an Bord und überall der absolute „Star“. Mittlerweile konnte Andreas schon zwei bis drei Stunden das Haus verlassen, ohne den Vogeljüngling mitzunehmen.
Aus der Amsel wird ein Spatz
Noch immer war nicht klar, zu welcher Vogelgattung „Harty“ gehörte. Gemäß den Bildern im Internet hätte er tatsächlich eine Amsel sein können. Doch Vogelhalter Andreas kamen Zweifel, da eine Amsel täglich drei bis fünf Gramm an Gewicht zunimmt, „Harty“ stattdessen aber nur zwei Gramm. Doch die weitere Entwicklung verlief rasant und immer mehr kam ein kleiner Spatz zum Vorschein. Am vierten Juli konnte er auf eigenen Füßen stehen, am sechsten Juli acht Zentimeter weit hüpfen, am zwölften Juli startete er zum ersten Alleinflug – der mit einer Bruchlandung endete.
„Harty“ wird langsam erwachsen
Einen Wecker benötigt Andreas Schmitt momentan nicht mehr, denn schon vor sechs Uhr dringt das „Tschilpen“ von „Harty“ durch die Schlafzimmertüre. Dann ist der kleine Spatz hungrig und kommt direkt auf den Arm oder die Hand seines Retters geflogen, um nach Futter zu betteln. Schmitt ist sich darüber im Klaren, dass die Trennung bevorsteht und er seinen Schützling freilassen wird. Auf diesen Tag will er ihn optimal vorbereiten. Ausgangspunkt für die bevorstehende Auswilderung ist ein Käfig, der tagsüber draußen an eine wettergeschützte, katzensichere Stelle gestellt wird, damit sich „Harty“ seine neue Umgebung gut einprägen kann. Noch ist es nicht so weit, da der Jungvogel nicht alleine Futter aufnehmen kann, aber die Tage sind gezählt.
Für Andreas Schmitt war es ein schönes Erlebnis, dieses kleine Wesen in seinem Wachstum zu beobachten und sich die Zuneigung und das Vertrauen des Vögelchens zu verdienen. Der Vogelpäppler wünscht sich von Herzen, dass sein kleiner Schützling „Harty“ in der Freiheit selbst zurechtkommt, und ist dankbar für die wundervolle Erfahrung, seinem gefiederten Freund beim Start ins Leben helfend zur Seite stehen zu dürfen.
Der Haussperling – auch Spatz oder Hausspatz genannt Es soll Kinder geben, vor allem in den Städten, die ihn nicht kennen, die ihn noch nie gesehen oder beobachtet haben, denen das muntere Tschilpen des grau-braun gefärbten frechen Kerls, des Spatzen, unbekannt ist. Weil der Haussperling, der volkstümlich meist Spatz genannt wird, bei uns inzwischen selten geworden ist, hatte ihn der Naturschutzbund Deutschland (NABU) zum Vogel des Jahres 2002 gewählt. Noch bis in die 50er Jahre des letzten Jahrhunderts wurde allenthalben zwar nicht mit „Kanonen“ auf die Spatzen geschossen, doch immerhin mit Schrot. Auch wurde er intensiv mit Gift bekämpft und in Netzen gefangen, die Eier aus seinen Nestern geholt und vernichtet und die Behörden zahlten lange Zeit sogar besondere Fangprämien für jeden toten Spatz, weil er für die Bauern und die zu ernährenden Menschen zu einer großen Plage geworden war. Der Spatz galt daher als ausgesprochener Schädling, wie einst auch der Maikäfer. Nur für die ausgesprochen arme Bevölkerung hatte er einen gewissen Wert, er diente ihr als einzige Fleischnahrung. Daraus leitet sich der bekannte Spruch ab: „Lieber einen Spatz in der Hand, als eine Taube auf dem Dach.“ Diese Zeiten sind allerdings seit langem vorbei. Mit der konsequenten Wärmeisolierung der Dächer sind für den Haussperling zahllose Möglichkeiten, ein Nest zu bauen, zunehmend verwehrt und so ist in vielen Gegenden das „Tschilp-tschilp“ kaum noch oder gar nicht mehr zu hören.