Es mag manchen überraschen, dass im Ost-Spessart auf einem Raum von zirka 400 Quadratmetern der Name Lohr in gleich fünf Gewässernamen und drei Ortsnamen vorkommen soll.

In der Reihenfolge ihrer ersturkundlichen Erwähnung, durchweg als Lara oder mit dem Namensteil Lara, sind dies in der heutigen Form von Lara: das Flüsschen Hafenlohr, der Ort Lohrhaupten, das Flüsschen Lohr, der Birklerbach (birc-lara), der Ort Hafenlohr, die Stadt Lohr am Main sowie urkundlich sehr viel später belegt die Heinrichsthaler Lohr und die Kurzenlohr bei Heigenbrücken. Letztere beide Bachnamen können hier unberücksichtigt bleiben, da sie von den Heinrichsthalern und Heigenbrückern einfach übernommen wurden, ebenso das „Hafen“ in Hafenlohr. „Hafen“ wurde erst mit dem Aufkommen der Hafenlohrer Häffner (Töpfer) dem Ortsnamen Lara/Lohr hinzugefügt.
Die spannende Frage ist: Welches Volk hat wann diese Lara-Namen mit in den Ostspessart gebracht und welche Bedeutung hatte dieses Wort? Aufhänger muss die früheste Nennung von Lara als fluviolus Lara (Flüsschen) in der Beschreibung des riesigen Landbesitzes von Kloster Neustadt am Main aus dem Jahre 768/769 sein, da die frühe Nennung nach menschlichem Ermessen die authentischste ist.
Genau mit dieser Frage befasste sich erstmals ausführlich der ehemalige Lehrer am Lohrer Gymnasium Joseph Schnetz 1912/1913. Obwohl in der Neustädter Urkunde das dortige Lara ausdrücklich als Flüsschen benannt wurde, glaubte Schnetz darin den etwa 500-mal in weiten Teilen Norddeutschlands, in Flandern und den Niederlanden auftretenden germanischen Orts- und Flurnamen Lar/Lara im Sinne von „natürlicher Weideplatz“ zu erkennen. Siehe beispielsweise Goslar oder Uslar. Spätestens seit 500 v.Chr. wurde nämlich in diesem nördlichen Raum bereits Germanisch gesprochen, während im Süden einschließlich im Main-Spessart-Raum bis etwa 50 v. Chr. Keltisch verbreitet war.

Mit Differenzierung der Lebensverhältnisse haben sich beide Sprachen wie etwa das Slawische, Baltische, Italische (vor allem Latein) und Griechische aus diesem Urindogermanischen entwickelt. Diese urindogermanische Sprache war vor 4000 bis 5000 Jahren die lingua franca in ganz Europa. Das Keltische ist indirekt etwa seit 500 v.Chr. bezeugt.
Zweifel an Theorie von Oberstudienrat Schnetz

Allerdings passte der Ortsname Lara in der Bedeutung „natürlicher Weideplatz“ nicht auf das Flüsschen Lara. Schnetz glaubte daher, in diesem urkundlichen Lara eine germanische Endsilbe -aha im Sinne von „Bach“ oder “Wasser“ zu erkennen. Er las Lara folglich wie Lar-aha (Lohrbach). Er konnte mit dieser These jedoch nicht überzeugen. Lohr müsste, wenn die These richtig wäre, heute etwa Lorach wie beispielsweise Laufach im Spessart oder Kürnach bei Würzburg heißen, also das -aha in irgendeiner Form in seinem Namen behalten haben. Tut es aber nicht.
So hat denn auch die deutsche Namenkunde ab 1989 sukzessive von dieser Erklärung Abstand genommen, am entschiedensten der Aschaffenburger Historiker Theodor Ruf 2011. Dies aus der einfachen und richtigen Erwägung heraus, dass in grauer Vorzeit die Menschen, als sie noch nicht sesshaft waren, meist erst einmal die Flüsse als wichtige Orientierungshilfen benannt haben – lange vor jeder Siedlung – und nicht umgekehrt, wie Schnetz dies im Falle von Lohr und Hafenlohr annahm.
Wer waren die Namensgeber?
Die Frage blieb freilich: Was dann, wenn es keine germanische Bachlösung mit Lar-aha gibt? Ist das Flüsschen Lara eventuell doch wie etwa die nahe Wern oder die Pleichach bei Würzburg von Germanen benannt worden? Oder von Kelten wie die Tauber, wo bei Creglingen sogar ein stadtartig angelegtes keltisches Oppidum gefunden wurde? Oder haben gar Urindogermanen das Flüsschen Lohr benannt wie möglicherweise den Main und ganz sicher den Rhein?
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Der Verfasser des Deutschen Gewässernamenbuches, der Regensburger Germanist Albrecht Greule, passte bei dieser Frage 2014. Vor allem, weil es für ihn nur im Urindogermanischen ein mögliches Wort gab, das für die Bezeichnung eines fließenden Wassers in Frage kam. Im gesamten ehemaligen germanischen und keltischen Sprachraum fand er jedoch keinen Fluss namens Lara, der bei der Frage helfen konnte, ob Kelten oder Germanen bei der Benennung des unterfränkischen Flüsschens ihre Hand im Spiel hatten. Die Herkunftsfrage war daher für Greule unlösbar, eine „Aporie“. So in einer Mail an uns.

Diese „Aporie“ wurde damals Thema für eine eigene sprachwissenschaftliche Recherche. Noch im gleichen Jahr konnte das gefundene Ergebnis in den „Blätter{n] für oberdeutsche Namenkunde“ veröffentlicht werden: Lara hat danach tatsächlich keine germanische Herkunft. Nach einer systematischen Bestandsaufnahme aller in Frage kommenden indogermanischen Verben konnte jedoch ein Wort für „schwimmen, fließen“ gefunden werden, das nach den Lautgesetzen der modernen Indogermanistik im Keltischen zu dem bisher nie in Erwägung gezogenen Gewässerwort Lara führt. Seine Bedeutung ist im Keltischen „fließend“, sinngemäß „der/die Fließende“, also „Flüsschen“ oder „Bach“ oder etwas poetischer „munter plätschernder Bach“.
Das Resultat nach der Übernahme des keltischen Worts ins Althochdeutsche im 7. Jahrhundert ist ebenfalls ein *lar- bzw. /lara/. Es entspricht dem in der Neustädter Urkunde bezeugten Lara mit langem Stammvokal exakt. Das heutige langezogen ausgesprochene „Lo-e-r“ (Lohr) wie „In Lo-e-r wird mersch gewo-e-r“ ist auch für die modernen Dialektforscher sicherer Beleg dafür, dass auch damals im 7. Jahrhundert der Stammvokal lang gesprochen wurde: also Lara.
Vieles deutet auf die Kelten hin
Nach dieser Lösung waren es nicht Germanen oder Indogermanen, sondern Kelten, die den Flüsschen Lohr und der Hafenlohr ihren Namen Lara gaben, möglicherweise auch dem Birklerbach in seinem Namensteil -lara (birc-lara). Die Kelten lebten bis ins letzte vorchristliche Jahrhundert in unserer Gegend, wie eine bei Hofstetten gefundene keltische Münze belegt.
Dazu passt die alte Flussnamenlandschaft in der Umgebung: Die erwähnte Tauber, die von Kelten benannte Main-Furt Locoritum bei Langenprozelten/Hofstetten sowie Main, Sinn und Fränkische Saale, die keltisch, wenn nicht sogar vorkeltisch benannt wurden. Selbst der Spessart wird heute nach neueren Forschungen als Teil des Abnoba-Gebirges angesehen. Abnoba ist ein keltisches Wort und bedeutet soviel wie „die von Flüssen durchzogene (flussreiche Gegend)“. Der Main und die diversen Lohr-Flüsschen machen dieser Bezeichnung alle Ehre. Abnoba findet sich im Weltatlas des Kartografen Claudius Ptolemaios aus Alexandria im Jahre 150 n.Chr..
Wie steht es aber mit der Ortsnamengebung für Hafenlohr und Lohr? Verdankt Lohr und Hafenlohr auch seine Ortsnamen Lara den Kelten? Für Lohr ergaben Ausgrabungen von Architekt Alfons Ruf 1978 in der Pfarrkirche St. Michael immerhin Anhaltspunkte dafür, dass Kelten auf dem Lohrer Kirchberg, dem späteren Siedlungskern des mittelalterlichen Lohrs, längere Zeit gelebt, wenn nicht sogar Lohr gegründet haben.
Selbst wenn dem zweifelsfrei so wäre und selbst bei Siedlungskontinuität seit der keltischen Zeit hieße eine Ortsnamenbenennung durch die Kelten jedoch: Die damaligen keltischen Siedler des Kirchbergs hätten den von ihnen gegründeten Ort in ihrer eigenen Sprache ebenfalls „munter plätscherndes Flüsschen“ genannt. Dies ist aber schwerlich vorstellbar, so reizvoll das Gedankenspiel sein mag. Auch Schnetz hat, wie oben ausgeführt, tunlichst vermieden, den Namen für Lara im Sinne von „natürlicher Weideplatz“ für die beiden Orte Lohr und Hafenlohr auf die beiden Lohr-Flüsschen zu übertragen und hat stattdessen eine Lohrbach-Lösung konstruiert.
Lohr nach den Bächen Lara benannt
Am wahrscheinlichsten bleibt daher, dass es die fränkischen Neuankömmlinge waren, die um 700 aus dem Rhein-Main-Gebiet kamen und die Orte Hafenlohr und Lohr nach den Bächen Lara benannt haben. Sie mögen sich über dieses vorgefundenen Flusswort Lara zwar gewundert haben, denn die keltische Bedeutung kannte natürlich niemand mehr. Das spielte aber für diese Gründergeneration damals keine Rolle. Wichtig war für sie: mit den vorgefundenen alten Flussnamen hatten sie prägnante und zugleich in der Region bekannte Ortsnamen für ihre Siedlungen. Es war offenbar auch ein beliebter Name, sonst wäre er nicht 1057 für Lohrhaupten (larahubedun) und später von den Heinrichtsthalern und Heigenbrückenern übernommen worden.
So gehört der im Ostspessart so verbreitete Fluss- und der Ortsname Lara/Lohr im Ergebnis zum sprachlichen Erbe der Kelten. Dieses Erbe war von Generation zu Generation mündlich weitergegeben worden, denn eine Schrift hatten die Kelten nicht. Umso wertvoller ist daher dieses Wort als ein Mosaiksteinchen in der Geschichte unseres Landkreises aus der Zeit vor Christi Geburt.
Zum Autor: Dr. iur. Wolfgang Vorwerk, Generalkonsul a.D., publiziert seit 1978 zu historischen Themen des Spessarts. Seit November 2017 ist er Vorsitzender des Geschichts- und Museumsvereins Lohr.
Literatur: Harald Bichlmeier & Wolfgang Vorwerk: „Zum Gewässer- und Ortsnamen Lohr: bisherige Forschungen und neue Ideen (Bayerisch-österreichische Orts- und Gewässernamen aus indogermanistischer Sicht, Teil 5)“. In: Blätter für oberdeutsche Namenforschung (BONF) 51, 2014 [2015], S. 15–85. Dies.: „Der Gewässer-und Ortsname Lohr: ein unlösbares Problem?“ In: Beiträge zur Geschichte der Stadt und des Raumes Lohr, Lohr, 2015. S. 9-61.
Lesetipp: Den Einstieg in die Serie verpasst? Die bisher erschienenen Serienteile finden Sie unter www.mainpost.de/geschichte_mspL.