Es ist Montag, 19. August, gegen 23 Uhr und zig Feuerwehrautos mit Blaulicht fahren vor meinem Fenster vorbei - von weitem hört man die Sirenen, die normalerweise nur im Brandfall ertönen. Doch Normalität gibt es in diesen Tagen nicht. Grund für den Alarm ist kein Feuer, sondern der Bruch eines Deiches in Heyrothsberge, einem Ortsteil von Biederitz. Durch die knapp 50 Meter breite und 1,60 Meter tiefe Bresche schäumt das Wasser des randvollen Elbe-Umflutkanals. Für die Anwohner in den Dörfern drumherum gibt es nur noch eine Devise und die heißt: rennen, und zwar schnell.
Feuerwehr, Bundeswehr und Freiwillige kämpfen die ganze Nacht hindurch, um die anliegenden Dörfer vor den Fluten zu retten, doch vergeblich. Noch in der Nacht wird der Deich aufgegeben und knapp 1000 Bewohner evakuiert. Da auch der Ort auf der anderen Seite von Biederitz, Gerwisch, evakuiert wird, befinden wir uns auf einer Insel. Meine Mutter ist bereits geflüchtet, die meisten meiner Freunde auch. Doch mein Bruder und mein Vater wollen nicht gehen. Sie warten, bis das Wasser auch unser Haus erfasst. Das einzige Gefühl, was ich habe ist Angst. Große Angst.
An Schlaf ist in dieser Nacht nicht zu denken und am nächsten Tag sind wieder hunderte Freiwillige im Einsatz, um Sandsäcke zu füllen, wie schon die Tage zuvor, um einen etwa 600 Meter breiten Notdeich zu errichten, der Biederitz und Gerwisch davor bewahren soll, nun auch noch von der letzten übrig gebliebenen Seite zu überschwemmen. Kaum zu glauben, aber es funktioniert. Dennoch sind die Nerven aller zum Zerreißen gespannt: Halten die anderen Deiche? Schließlich steht schon tagelang das Wasser mit tonnenschwerem Druck an ihnen. In der Nacht der Flutwelle hat der Deich, der gerade mal 100 Meter weit von meinem Elternhaus entfernt ist, gerade noch 45 Zentimeter Luft bis zur Krone. Er hält, wie auch die anderen in Biederitz und Gerwisch.
Doch als wäre das nicht alles schlimm genug, machen böse Gerüchte die Runde. Anwohner der überschwemmten Dörfer glauben, dass der Deich mutwillig zerstört worden ist, um den etwas größeren Ort Biederitz zu retten. Sie sind so aufgebracht, dass sie nun ihrerseits den errichteten Notdeich zerstören wollen, damit bei ihnen das Wasser weg- und bei uns einfließt. Bundeswehrsoldaten bewachen den Notdeich mit geladener Waffe.
Es klingt übertrieben, doch spätestens in dieser Situation kam es mir vor, als hätten wir Krieg. Die Sirenen werden als "Fliegeralarm" bezeichnet, laufend gibt es Polizeidurchsagen und die Hubschrauber kreisen Tage- und Nächtelang über uns, um die Deiche zu bewachen.
Die zehn Tage bei meinen Eltern in Biederitz waren die "Hölle", überall zugemauerte Fenster, verbarrikadierte Türen und unzählige Sandsäcke. Es war richtig entspannend, wieder nach Gemünden zu kommen und keinerlei Sandsäcke sehen zu müssen. Wir selbst hatten Glück im Unglück, nur die Kellerfußböden gaben nach, doch Freunde von uns haben fast alles verloren. Und es stinkt überall so furchtbar. Das Wasser ist fast reiner Schlamm.