Eine Geschichte lässt dem Höllricher Erwin Keßler keine Ruhe. Am Kriegsende fiel ein amerikanischer Soldat in Höllrich, der offenbar eigentlich ein Deutscher war. Dessen Bruder aber muss als deutscher Jagdflieger in Italien von Amerikanern abgeschossen worden sein. So habe es in den 50er, 60er Jahren in einer kleinen Meldung in der Bild-Zeitung gestanden, erinnert sich Keßler, der heute 81 Jahre alt ist. Er meint, sich sogar an den Soldaten zu erinnern, der im April 1945 in Höllrich ums Leben kam. Der habe akzentfrei deutsch gesprochen.
Keßlers Elternhaus ist das Gasthaus „Zum Hirschen“ in Höllrich. Das Gasthaus hatten seine Eltern irgendwann verpachtet und daneben ein landwirtschaftliches Anwesen gebaut. Dort hielt sich Keßler, am Kriegsende elf Jahre alt, auf, als am 6. April 1945 die Amerikaner kamen. Er erzählt, dass er mit seiner Familie, einer weiteren Familie, mit Zwangsarbeitern und drei deutschen Soldaten, darunter zwei Deserteure, im Keller unter der Scheune saß. Die Versteckten hatten ein Problem: Die deutschen Soldaten waren bewaffnet. Zu diesem Zeitpunkt hatte Bürgermeister S.
, der zugleich NSDAP-Ortsgruppenleiter war und vorher noch große Töne gespuckt habe, bereits Reißaus genommen und sich bei Bekannten im Nachbarort versteckt, erinnert sich Keßler. Detailliert hat Erwin Keßler seine Erinnerungen an die Kriegszeit für seine Kinder und Enkelkinder zu Papier gebracht.
So erinnert sich der Höllricher an die Task Force Baum, an vier tote amerikanische Soldaten der Einheit und wie nach deren Aufreiben deutsche Soldaten mit einem abgeschossenen amerikanischen Panzer herumfuhren, bis dieser in einem Bach stecken blieb, sodass die Dorfjugend darin herum klettern konnte.
Den regulären Truppen der anrückenden Amerikaner flogen Aufklärungsflugzeuge voraus, die Soldaten von der Keßler'schen Scheune aus mit Gewehren abzuschießen versuchten. Die Keßlers verschwanden daraufhin im Keller, wo immer näher dumpfe Abschüsse von Panzern zu hören waren. Die Amerikaner rückten an. Als nach einer halben bis dreiviertel Stunde die Kellertür aufgerissen wurde, hatten die drei deutschen Soldaten ihre Gewehre in der Hand, während die Amerikaner mit abzugsbereiten Eierhandgranaten am Kellereingang standen, erinnert sich Erwin Keßler.
Nun erwies sich der französische Kriegsgefangene „Josef“, der auf dem Hof arbeitete, als Glücksfall, erzählt Keßler. Der hatte seine französische Uniform angezogen und rief den Amerikanern etwas auf Französisch zu, woraufhin diese die Hand vom Abzug nahmen. Ein junger Amerikaner habe Keßlers Vater, der zuvor als Verwundeter in Hammelburg untergebracht gewesen sei, beim Verhör ins Gesicht geschlagen.
Nun kommt der Deutsche auf der Seite der Amerikaner ins Spiel. Der sei hoch gewachsen und elegant gewesen, habe akzentfreies Deutsch gesprochen und ein tadelloses Benehmen gehabt, erinnert sich Keßler. Dieser Mann, offenbar ein Offizier, habe seine Kameraden zur Mäßigung gemahnt. Auf einmal wurden jedoch alle aufgefordert, wieder in den Keller zu gehen. Angeblich weil der Ort noch nicht übergeben war, wurde das Dorf doch noch beschossen. Deutsche und amerikanische Truppen schossen 14 Scheunen und ein Wohnhaus in Brand, so Keßler. Erst als Pfarrer Bienöder und Max Keim das Dorf übergaben, hörte der Beschuss auf. Im Film vom Einmarsch der Amerikaner von Langenprozelten bis zur Hainbuche könne man sehen, wie Kleinhöllrich brenne. Familie Keßlers Anwesen blieb verschont.
Beim Einmarsch der Amerikaner gab es keine Toten zu beklagen – bis auf einen. Entweder ein Granatsplitter oder eine Kugel hat einem US-Soldaten in der Bonnländer Straße vor dem Haus, das heute die Nummer 41 trägt, erwischt. Gisela Thiele, die gegenüber wohnt, erzählt, dass ihr Onkel Christian Neun, in Russland schwer verletzt, sich mit seiner Familie und der seiner Tante im Keller des Hauses Nummer 41 versteckte, als ihn plötzlich ein Amerikaner holen wollte, „Fire! Fire!“ rufend, weil die Scheune von Neuns Elternhaus Nummer 40 brannte.
Als der Amerikaner gerade vor ihrem Onkel auf die Straße trat, habe es ihn erwischt. Zunächst war er nur verletzt, er starb aber bald. Ob der Tote deutsch gesprochen hatte, darüber gehen die Informationen Erwin Keßlers und Gisela Thieles jedoch auseinander. Der Tote wurde zunächst auf dem Friedhof bestattet, kam aber später auf einen Sammelfriedhof.
Dieser tote Amerikaner, dessen Name in Höllrich unbekannt ist, muss, so folgert Keßler, jener elegante Mann gewesen sein, der kurz zuvor in den Keller der Keßler'schen Scheune gekommen war und derselbe, dessen Bruder, auf deutscher Seite kämpfend, über Italien abgeschossen wurde. Gesehen habe er den Toten aber nicht.
Eine Mail an das Archiv der Bild-Zeitung bringt – offenbar durch Volltextsuche nach dem Wort „Höllrich“ – überraschend schnelle Hilfe. Der Artikel, den Keßler meint, ist am 16. Januar 1958 unter der Überschrift „Im Kriege gegeneinander – im Grabe beisammen“ erschienen. Darin steht auch der Name des in Höllrich gefallenen Amerikaners: Carl Herold, geboren 1912, Sergeant bei der Infanterie. Er sei am 6. April 1945 von der Kugel eines deutschen Scharfschützen getötet worden, als er einem deutschen Passanten in seiner Muttersprache eine Warnung habe zurufen wollen. Sein Bruder Fredy, geboren 1925, ein Luftwaffensoldat, ist demnach am 15. September 1944 in „heißen Abwehrkämpfen“ bei einem Stoßtrupp-Unternehmen gegen US-Truppen gefallen.
Laut dem Zeitungsartikel ist Vater Christian Herold 1927 mit den Brüdern Hans und Carl nach Amerika ausgewandert. Der kleine Fredy blieb bei seiner Mutter in Bad Honnef. Während der Vater nach einem halben Jahr schon wieder zurückkehrte, hatten seine beiden Söhne in den Staaten Fuß gefasst. Im amerikanischen Nationalarchiv finden sich im Internet Daten zur Einschreibung Carl Herolds am 27. November 1942 als Soldat: Er wohnte demnach im kalifornischen San Mateo nahe San Francisco, war verheiratet und Gärtner.
Der Artikel erschien 1958, weil sich in jenem Jahr der Wunsch der Mutter, ihre beiden gefallenen Söhne zu Hause in Bad Honnef nebeneinander beerdigen zu dürfen, erfüllte. Sie mussten dafür aus Italien und im Falle Carls aus Holland umgebettet werden. In Bad Honnef sind die Herolds allerdings unbekannt, auch ihre Gräber, was eine Kontaktaufnahme mit der Familie oder eine weitere Informationssuche erschwert. Lediglich der Name „Herold Friedr. W.“ findet sich dort auf einem Denkmal für Gefallene – wohl Carls Bruder Fredy.