So muss das Reich eines Fabulologen und Märchenfans aussehen: Ein altes, weiß verputztes Fachwerkhaus in einer engen Gasse, eine schwarze, schwere Haustüre mit antikem Türklopfer, an der eine geheimnisvolle Figur aus Messing sich dem Besucher vielversprechend entgegenstreckt. Dahinter ein Asphaltboden, der einen zur nächsten Tür geleitet, hinter der sich wiederum ein knarriger Holzboden verbirgt und eine hoheitliche Treppe mit rotem Teppich, die den Weg zu Bartels Wohnung weist.
Wer alleine diese Stufen nach oben in die Wohnung steigt, atmet praktisch schon die Schneewittchen-Geschichte ein. Man fühlt sich seltsam beobachtet und blickt dabei doch nur in sein eigenes Gesicht; der hölzerne Treppengang ist über und über mit kleinen Spiegeln bestückt. „Die sind eine Leidenschaft meiner Frau“, sagt Bartels. Er führt seinen Besuch an einen großen Holztisch: Darauf liegen fein säuberlich sortiert Dokumente, in denen er längst bewiesen hat, dass Schneewittchen eine Lohrerin war.
Auch heute noch lässt die Märchenfigur ihn nicht los: Derzeit bereitet er ein neues Manuskript über die braunhaarige Schöne vor. Seit Jahren wirbt er dafür, die Märchenfigur noch stärker als Symbol für die Stadt einzusetzen; immerhin wurde sie unlängst von der MAIN-POST als berühmteste Lohrer Persönlichkeit bei einem Internet-Test ausgemacht, sagt er. Akribisch sammelt der 69-Jährige alle Zeitungsartikel, die mit Schneewittchen zu tun haben. Und wenn er mal einen Beitrag verpasst, kann er sich sicher sein, dass einer seiner Weggefährten vom Mehling-Stammtisch alias dem „Arbeitskreis der Fabulologen“ oder ein Familienmitglied ihn darauf hinweisen. 1986 ließ sich Bartels noch die Frage gefallen: „War Schneewittchen eine Lohrerin?“; heute behauptet er selbstbewusst: „Schneewittchen ist eine Lohrerin!“ In 21 Jahren hat er in unzähligen Interviews, Podiumsdiskussionen und Fernsehbeiträgen für die Lohrer Märchenfigur gekämpft. Es ist nicht das erste Mal, dass die Hessen das Lohrer Schneewittchen den Leuten madig machen wollen.
Das Buch des Mannes, der die Theorie ins Leben setzte, dass Schneewittchen aus dem hessischen Bad Wildungen stamme, gibt es seit 1994. „Das ist eigentlich ein alter Hut“, seufzt Bartels. Und längst widerlegt. Warum die Fernsehleute jetzt darüber eine aktuelle Wissenschaftssendung („Welt der Wunder“) drehten, ist ihm ein Rätsel. „Vielleicht fabulieren die auch gerne.“
Ihn wurmt nur, dass sie bei ihrem halbherzigen Durchleuchten der Fakten am Ende dem hessischen Schneewittchen den Vorzug gaben. Die Beweislage hält er für „dünn“ und „fehlerhaft“. Viele spezifische Merkmale hätten nur in Lohr und Umgebung nachgewiesen werden können.
Bartels hat sich das Werk des hessischen Forschers schon vor über zehn Jahren besorgt und selbstverständlich bis ins Detail studiert. Sein Urteil? „Er hat vielleicht ein paar Punkte, die für seine These sprechen, aber bei einigen Sachen hakt's schon gewaltig.“
Das hessische Schneewittchen überquerte bei einer Reise nach Belgien angeblich das „Siebengebirge“. Das als Beleg zu nehmen, dass Schneewittchen hinter den sieben Bergen die sieben Zwerge traf, sei verkehrt: „Das kann nicht als Beweis gelten.“ Obendrein müsse längst bekannt sein, dass die sieben in dem Wort nicht von der Zahl sieben komme, sondern von „siefen“, was viel heißt, wie „durch Regen-Bäche entstandene Täler“.
Für Verwirrung sorgt bei Bartels auch der Umstand, dass es in Hessen laut Buch angeblich zwei Schneewittchen in verschiedenen Jahrhunderten gab. Auch beim Gift liegt der hessische Forscher daneben, findet der Fabulologe. Dieser behauptet nämlich, dass Schneewittchen durch Arsen zum Scheintod kam. Das ist ausgeschlossen, alle Symptome weisen eindeutig auf eine Vergiftung mit der Tollkirsche hin, sagt Bartels. Er muss es ja wissen, arbeitete er doch jahrzehntelang als Apotheker in Lohr.
Der wohl wichtigste und entscheidende Punkt in Bartels Beweiskette ist der „sprechende“ Spiegel. „Den haben nur wir Lohrer“, sagt er. Wer's nicht glaubt, soll mal einen Abstecher ins Lohrer Schloss machen, empfiehlt der Fabulologe. Noch heute befindet sich im Spessartmuseum das wertvolle Stück, auch bekannt als der „Schneewittchenspiegel“, da ihn eine entsprechende Inschrift ziert.