Radioaktiver Atommüll versenkt im Buntsandstein des Spessarts – man mag gar nicht daran denken. Doch vor fast 40 Jahren untersuchten Wissenschaftler im Auftrag der Bundesregierung bundesweit Standorte auf ihre Tauglichkeit für ein atomares Endlager. Darunter auch die gut 536 Meter hohe Sohlhöhe bei Neuendorf. Die Untersuchung erfolgte aufgrund des politischen Zündstoffs unter strengster Geheimhaltung und ohne Wissen der örtlichen Bevölkerung.
Insgesamt wurden 250 Flecken in Deutschland untersucht. Die Sohlhöhe kam unter die ersten acht, belegte dort in der Tauglichkeitsrangliste aber den segensreichen letzten Platz. „Kaum geeignet“ – so lautet auf dem letzten Blatt des gut 60 Seiten starken Gutachtens das Urteil für die Sohlhöhe.
Am Ende fiel die Wahl der Politiker auf einen Standort in Ostniedersachsen: Gorleben. Paradox: Gorleben hatten die Wissenschaftler in den 70er Jahren überhaupt nicht als Standort für ein Endlager vorgeschlagen. Der Name tauchte in dem Gutachten nicht auf. Die Hintergründe der bis heute umstrittenen Entscheidung sorgen seit einigen Tagen bundesweit für Schlagzeilen. Ausgelöst sind diese durch alte Akten, die die Umweltschutzorganisation Greenpeace ans Licht gebracht hat. Sie belegen, dass die Politiker bei der Festlegung auf Gorleben den Rat der Wissenschaftler weitgehend außer Acht gelassen haben.
Eines der Dokumente ist das der Redaktion vorliegende „Wager-Lüttig-Gutachten“. Die beiden Professoren Wager und Lüttig hatten im Jahr 1974 als Verantwortliche des Niedersächsischen Landesamtes für Bodenforschung den Auftrag zur Standorterkundung für ein Endlager erhalten. Auftraggeber war letztendlich die damalige Bundesregierung. Das sagte der heute in Celle lebende und über 80-jährige Prof. Gerd Lüttig gegenüber der Redaktion.
Den Wissenschaftlern wurden damals acht mögliche Standorte zur Untersuchung vorgegeben. Wie es zu deren Auswahl kam, lässt sich offenbar nicht mehr rekonstruieren. Fest steht jedoch, dass neben Standorten nahe Ahlden, Börger, Fassberg, Uchte (alle Niedersachsen), Lütau (Schleswig Holstein), Oberwesel (Rheinland-Pfalz) und Mahlberg (Baden-Württemberg) auch die Sohlhöhe bei Lohr unter die Lupe genommen wurde.
Auf die Spessarthöhe war man vermutlich gekommen, weil dort im 19. und bis ins 20. Jahrhundert das „weiße Gold des Spessarts“ abgebaut wurde: Schwerspat. Relikt dieses Abbaus sind bis heute etliche Bergwerksgruben. Die Wissenschaftler machten sich jedoch kein Bild vor Ort. Sie werteten lediglich Karten und geologische Unterlagen aus. Klare Vorgabe war es, die „Möglichkeiten der Verbringung radioaktiver Abfälle in den Untergrund in geologisch sichere Räume“ zu untersuchen. Für Wiederaufbereitungsanlage und Endlager war eine Fläche von zwölf Quadratkilometern vorgesehen. Die Anlage hätte pro Stunde mit 730 000 Litern Wasser versorgt werden müssen, dem damaligen Bedarf einer Stadt mit 100 000 Einwohnern.
Diese Wassermenge, so stellten die Wissenschaftler fest, hätte man im Umfeld der Sohlhöhe bestenfalls in den Talauen des Mains per Brunnen zu Tage fördern können. Hinsichtlich des geologischen Untergrundes urteilt das Gutachten, dass auf der Sohlhöhe mit Blick auf eine mögliche Versickerung von Abwässern „ein Abschluss nach unten wahrscheinlich nicht gegeben“ sei.
Eine Erdbebengefährdung sei „nicht auszuschließen, allerdings nur mäßig groß“, heißt es in der Stellungnahme weiter. Verkehrstechnisch sei das Gebiet „einigermaßen gut erschlossen“, ansonsten aber „fast ausschließlich von der Waldwirtschaft besetzt“.
Auch an die möglichen Auswirkungen eines Endlagers auf den Tourismus wurde damals gedacht: „Erholungswirtschaftliche Ansprüche sind in der erst am Anfang stehenden Touristik-Phase zunehmend zu erwarten.“ Insgesamt kommt das Wager-Lüttig-Gutachten zu dem Schluss, dass auf der Sohlhöhe „die Möglichkeit der Verbringung radioaktiver Abfälle in den Untergrund schlecht“ sei. Auch eine „örtliche Versenkung von Abwässern erscheint risikoreich“, heißt es weiter.
Gegen Ende des Gutachtens setzen die Wissenschaftler zum abschließenden Vergleich der acht untersuchten Standorte an. Dabei landet die Sohlhöhe mit 87 Bewertungspunkten auf dem letzten Platz. Der Favorit für die Errichtung einer Wiederaufbereitungsanlage und eines Endlagers war in den Augen von Wager und Lüttig der Standort Ahlden in Niedersachsen. „Sehr gut geeignet“ werteten sie angesichts von 141 Punkten. Eine weitere Untersuchung des Standortes Sohlhöhe hingegen bezeichneten die Professoren als „nicht sinnvoll“.
Ganz zum Schluss des Gutachtens wird vor allem eines deutlich: Den Wissenschaftlern fiel die Erstellung einer Rangliste ausgesprochen schwer. Ohne ausführlichere Untersuchungen vor Ort könne man die Tauglichkeit der einzelnen Standorte kaum beurteilen. Für den Vergleich der acht Standorte schlüssige Parameter einzuführen, sei „eine fast unlösbare Aufgabe“. Deswegen besitze das Gutachten auch lediglich den „Charakter einer Grobschätzung“, so die Verfasser.
Dies sei im Vorfeld aber so „beabsichtigt und vereinbart gewesen, vor allem um in diesem Stadium der Untersuchung die Vertraulichkeit zu wahren“, heißt es im Schlusswort. Darin machen die Gutachter auch deutlich, dass „ein einzelnes Faktum die ganze Wertung umwerfen“ könne.
Als Beispiele für ein solches Faktum nannten Wager und Lüttig in ihrem Gutachten die Politik und bewiesen so weise Voraussicht. Denn wie wir heute wissen, warf die Politik die gesamte Wertung um. Sie entschied sich für keinen der untersuchten Standorte. Stattdessen wurde Gorleben wie das Kaninchen aus dem Hut gezaubert. Bis heute ist der Ort Synonym für den Widerstand gegen die Atomkraft, aber auch beispielgebend für den Umgang mit den wohl risikobeladendsten Überbleibseln der Wohlstandsgesellschaft.
Die Sohlhöhe freilich blieb ebenso wie die hiesige Bevölkerung vom Atommüll verschont. Statt einer Wiederaufbereitungsanlage thront auf der Erhebung seit Mitte der 1970er Jahre das Oberbecken. Es ist Bestandteil des Pumpspeicherwerkes im Sindersbachtal, das seit 1976 Strom ins Streckennetz der Deutschen Bahn speist.
ONLINE-TIPP
Die Gorleben-Entscheidung war am Dienstagabend Thema in der ZDF-Sendung Frontal21. Hintergründe auch zur damaligen Standortsuche lesen Sie im Internet unter www.mainpost.de.