Was hat das Eisschlecken auf dem Marktplatz und der Gang übers Kopfsteinpflaster mit Geschichte zu tun? Viel, bedenkt man, dass einige Tische der Eisdiele auf dem Umriss des 1945 zerstörten Rathauses stehen und dass die ins Pflaster eingelassenen Sandsteine keine Gehhilfe sind, sondern zeigen, wie groß das Rathaus einmal war. Unsichtbar auch die Synagoge in der Plattnersgasse, von der heute nur noch eine Tafel zeugt oder die letzte Gemündener Mühle, die man von der Fußgängerbrücke überm Mühlgraben sehen könnte - wäre sie noch da.
Lotte Bayer ist Stadtführerin mit Leib und Seele. Seit sie bei einem Pfarrfest Anfang der 80er Jahre gefragt wurde, ob sie nicht Lust habe, Besucher durch Gemünden zu führen, ist sie wie mit einem Virus infiziert. "Das ist mein Ding." Dass sie außerdem gerne mit Menschen zu tun hat und "ihr" Gemünden liebt, macht die Sache noch besser. Bayer schwärmt: "Wenn man morgens auf der Mainbrücke steht und die Türme im Nebel liegen, ist das wunderschön." Ihren Rundgang beginnt sie an der Lindenwiese:
"Für mich ist die Scherenburg das Wahrzeichen von Gemünden. Von der Lindenwiese aus ist die historische Eingrenzung der Stadt gut sichtbar - von der Burg herunter, über die Häuser am Mühlgraben entlang bis zum Hexenturm. Weiter links liegt der Eulenturm, von dort ging es wieder hoch zur Burg. Das war die Urzelle, die Keimzelle Gemündens."
Auch für Lotte Bayer war die Stadt so etwas wie eine Keimzelle. In Rieneck geboren und in Schaippach aufgewachsen, konnte sie sich erst in Gemünden so richtig entfalten. "Die Stadt hat für mich immer Freiheit bedeutet. Wenn ich von Schaippach nach Gemünden gekommen bin, ist mir vor Freude fast das Herz heraus gehüpft." Von der Lindenwiese führt unser Weg über die Fußgängerbrücke zum Mühltor:
"Das Mühltor ist früher das Einlass-Tor zur Stadt gewesen. Am Turm kann man noch gut die mittelalterlichen Einflüsse erkennen. Sehr interessant ist, dass hier eigentlich unsere Fahrstraße durchführen würde. Im Zweiten Weltkrieg sind durch das Mühltor noch die amerikanischen Panzer gerollt."
Lotte Bayer erzählt frei, ohne den Blick auf ein Manuskript. Die geschichtlichen Daten hat sie sich selbst beigebracht, wie überhaupt das Lernen zu ihrem Leben gehört. Die 64-Jährige hat eine Ausbildung zur Ernährungsberaterin absolviert, erst vor wenigen Wochen leitete sie wieder einen Kurs für Heilfasten. Sie wohnt in einem Haus, das von der alten Saalebrücke aus zu sehen ist, der nächsten Station:
"Im Sommer kann ich sehr gut mit dem Begriff "Klein-Venedig" leben, aber im Winter beim Hochwasser sieht das anders aus, wenn man selbst betroffen ist. Das Wasser reicht dann bis an die Balkone heran. (Sie blickt hinüber nach Klein-Gemünden). Hier sehen wir das Huttenschloß - früher ein Versorgungsgut der Grafen von Rieneck. ,Klein-Gemünden' ist der älteste Teil und wurde erstmals um 1184 erwähnt. Es war schon immer Hochwassergebiet. Wenn jemand aus dem Stadtgebiet nach Klein-Gemünden geheiratet hat, fiel stets der Satz: ,Da hast' halt auch jedes Jahr mal das Wasser.'"
Weiter geht's zum Marktplatz, wo Lotte Bayer auf das "Halsgericht" hinweist, wo früher die Delinquenten einen Kopf kürzer gemacht wurden. "Gemünden wäre eine typisch mittelalterliche Stadt", schwärmt sie. Im Gepäck hat sie ein echtes Kleinod, einen Stadtführer aus den 30er Jahren. Die "Restauration Haas" - die heutige Ratsschenke - warb damals mit "aufmerksamer Bedienung" und "mäßigen Preisen". Ein anderer Gasthof pries "elektrisches Licht" und ein "Bad im Hause" an. Zum Marktplatz sagt sie:
"An den Buntsandsteinen im Pflaster kann man noch sehr gut erkennen, wo früher das Rathaus gestanden hat. Wo heute das Denkmal an den Fürstbischof Julius Echter erinnert, war früher der Treppenturm. Das Rathaus wurde am 26. März 1945 beim Bombenangriff der Amerikaner zerstört. Leute, die das miterlebt haben, erzählen, dass aus der Rathaus-Uhr Rauch gedrungen ist."
Lotte Bayer ist begeistert von Geschichte. Die Kärrnergasse ist für sie nicht nur schön anzusehen, Gärten und Bepflanzung erzählen mehr: "Ich erfahre etwas über den Menschen, der hier wohnt." In der Fischergasse schwärmt sie von einem Bauerngarten, der vor allem nach dem Krieg großen Nutzen hatte. "Solche Gärten gab es früher vor allem auf dem Land - hier aber liegt er mitten in der Stadt." Unser Weg führt zurück zur Kärrnergasse:
"Hier sollten einmal Handwerkerhöfe entstehen. Dort, wo heute die Scherenbergstraße verläuft, hätten sich Wohnhäuser und schöne fränkische Tore aneinander reihen sollen. Das Ganze hat sich aber zerschlagen, nur bei unserer Schreinerei ist die Idee umgesetzt worden. Eine Gasse gibt Flair, ist etwas Anheimelndes. Leider hat Gemünden bei der Neugestaltung nach dem Krieg wenig Gassen bekommen."
Es gibt Zeiten, da ist die 64-Jährige zwei bis drei Mal pro Woche bei Führungen unterwegs. Dann ist wochenweise wieder weniger los. Bayer kümmert sie nicht nur um Geschichte, auch Kleinigkeiten sind ihr wichtig - zum Beispiel die Bepflanzung vor den Häusern. "Es ist einladender für die Touristen, wenn in den Höfen und Gassen etwas blüht." Deshalb würde sie gerne anregen, eine Art Preis für die schönste Bepflanzung auszuloben. Wir stehen jetzt vor dem Amtsschreiberpförtchen:
"Ursprünglich war das Amtsschreiberpförtchen doppelstöckig und hatte ein schönes Walmdach. Nach dem Krieg ist es wieder aufgebaut worden - allerdings nur einstöckig. Die Materialbeschaffung war damals sehr schwierig. Deshalb hat man sich für die einfachste Lösung entschieden."
Man hat keine Chance, mit Lotte Bayer unerkannt durch die Stadt zu gehen. Ständig wünschen Passanten einen guten Morgen, sogar für ein kleines Schwätzchen hat die Lotte neben der Stadtführung noch Zeit. Während sie dem Reporter ins Mikrofon diktiert, ist öfter ein "Hallo" oder ein "Grüß Gott" von ihr zu hören. Bayer erzählt, was für sie das Besondere an Gemünden ist:
"Jede Stadt hat ihren ganz speziellen historischen Reiz. Manche Urlauber denken ja, dass man mit Gemünden schnell ,fertig' ist, dass es reicht, abends mal kurz durch die Fußergängerzone zu gehen und man dann alles ,gesehen' hat. Gemünden war aber eine mittelalterliche Stadt und davon gibt es heute noch viele Zeugnisse. Man muss sich etwas Zeit nehmen, dann lernt man Gemünden auch schätzen und lieben. Ich mag an Gemünden, dass es hier dieses Anheimelnde gibt. Ich bin mit meiner Stadt fest verwachsen."
Überall werden die historischen Zeugnisse sichtbar, auch wenn sie nicht oder kaum mehr zu sehen sind. Da ist zum Beispiel die Geschichte vom Dichter Ringelnatz, der im Koppen einkehrte und der Wirtin zuliebe 15 Schoppen Wein getrunken haben soll. Oder der Rest der Stadtmauer gegenüber dem früheren Haushaltswarengeschäft "Sitzmann", von dem heute kaum jemand Notiz nimmt. Auch den arg ramponierten Nepomuk, der an der Außenwand der Stadtpfarrkirche Asyl gefunden hat, erwecken Lotte Bayers Geschichten zum Leben.
"Wenn die Gruppen in die Stadtpfarrkirche hereinkommen, höre ich immer als erstes: ,Das ist jetzt aber eine evangelische Kirche.' Dabei habe ich vorher von den Fürstbischöfen erzählt und davon, dass hier früher alles katholisch war. Die Kirche ist für den Katholizismus einfach zu schlicht. Aber wenn man Ruhe sucht, findet man sie hier besser als in einer überladenen Kirche!"
Hinauf geht's zur letzten Station, der Scherenburg. Auf dem steilen Weg wird schnell klar, dass die 64-Jährige neben einer flotten Zunge auch ein flottes Tempo hat. Täglich geht sie walken, erzählt sie, achtet sehr auf ihre Gesundheit, ernährt sich vegetarisch. "Wenn ich nicht zum Walken komme, renne ich schnell mal auf die Burg." Dem nach Luft ringenden Reporter erzählt sie:
"Der Ausblick ist immer wieder wunderbar. Vor uns sehen wir die Ausläufer vom Spessart, rechts die Ausläufer von der Rhön. Auch den Zollberg und den Einmalberg sieht man von hier. Als wir Kinder waren, hätte man nie sagen können, dass man in Gemünden gewesen ist, wenn man nicht auf den Turm der Scherenburg gestiegen wäre - was damals noch möglich war. Da haben wir gesagt: Mensch, die hatten's gut früher, was die alles haben sehen können!"