Der Wolf ist angekommen in Unterfranken. Vor wenigen Tagen gab es im Landkreis Main-Spessart bei Neuendorf und Birkenfeld zwei Sichtungen. Es könnte sein, dass es Jungtiere auf dem Durchzug sind. Doch der Wolfsexperte Ulrich Wotschikowsky (77) aus Oberammergau zeigt sich im Gespräch mit der Redaktion überzeugt, dass es dabei nicht bleiben wird.
Frage: Die beiden Wolfssichtungen in Main-Spessart sorgten jüngst für Aufregung. Kamen diese Sichtungen für Sie überraschend?
Ulrich Wotschikowsky: Nein, nichts daran ist überraschend. Der Wolf breitet sich seit Jahren in Deutschland aus. Wir erwarten das auch für den Spessart schon lange. Schließlich war er dort schon früher von Natur aus zu Hause.
Zwei Wölfe, bedeutet das, dass es schon bald Nachwuchs geben könnte?
Wotschikowsky: Aus den beiden Sichtungen kann man nicht zwingend schließen, dass es zwei Wölfe sind. Es wurde immer nur ein Tier gesehen. Die beiden Stellen liegen Luftlinie rund 20 Kilometer auseinander. Das ist für einen Wolf gar nichts. Auch der Main dazwischen ist kein Hindernis. Es kann sich also um nur einen Wolf handeln, ohne weiteres aber auch um zwei verschiedene Tiere. Es können auch drei oder vier Wölfe sein, von denen man noch nichts bemerkt hat.
Wie lange wird es dauern, bis sich in Spessart, Rhön oder Steigerwald ein Wolfsrudel dauerhaft etabliert und Nachwuchs zeugt?
Wotschikowsky: Da lehne ich mich jetzt mal weit aus dem Fenster und sage: fünf Jahre. Vielleicht schon früher, vielleicht etwas später.
Wo kommen die nun gesichteten Tiere her?
Wotschikowsky: Es leben Wölfe in Sachsen, Sachsen-Anhalt, Brandenburg und Niedersachsen. Aber auch aus Norditalien oder der Schweiz können Wölfe zuwandern. Für einen Wolf sind 1000 Kilometer keine Distanz.
Gegner eines möglichen Nationalparks im Spessart vermuten, dass die Wölfe von Naturschützern ausgesetzt wurden, um die Nationalparkidee zu befördern. Halten Sie das für denkbar?
Wotschikowsky: Dieser Gedanke ist absoluter Schwachsinn. Wo will man denn Wölfe fangen, um sie andernorts auszusetzen? Zum einen sind die Tiere in Deutschland und allen angrenzenden Ländern streng geschützt. Zum anderen wandern Wölfe große Strecken. Wer glaubt denn, dass er einen Wolf an einem Ort aussetzt und dieser dann dort bleibt? Der ist in einer Woche weiß Gott wo.
Beim sich ebenfalls wieder ausbreitenden Luchs gilt es aber als gesichert, das manch ein Tier bei Nacht und Nebel einem Kofferraum entsprungen ist.
Wotschikowsky: Beim Luchs ist die Situation eine ganz andere. Er wird unkontrolliert in Gehegen gezüchtet. Da wurde in den vergangenen Jahrzehnten sicher so manches Jungtier ausgesetzt. Aber das gilt ganz und gar nicht für Wölfe. Sie werden nicht gezüchtet. Die Gehege sind wesentlich stärker kontrolliert.
Seit den jüngsten Sichtungen wurde kein Wolf mehr in der Region gesehen. Ist das normal?
Wotschikowsky: Ja. Es ist nicht ungewöhnlich, dass man ein Wildtier heute sieht und dann wochen- oder monatelang nicht mehr. Irgendwann taucht es wieder auf.
Wenn ein vagabundierender Wolf einen passenden, noch nicht von anderen Wölfen besetzten Lebensraum findet, lässt er sich dann nieder oder läuft er weiter, bis er einen Partner findet?
Wotschikowsky: Es kommt vor, dass Wölfe über längere Zeit einzeln in einem Gebiet leben. In Brandenburg ist ein Rüde bekannt, der zehn Jahre allein war. Erst im vorigen Jahr ist eine junge Wölfin dazugekommen, nun gibt es Nachwuchs.
Wie sieht es in Bayern mit der Ausbreitung des Wolfes aus?
Wotschikowsky: Wir erwarten, dass sich in diesem Sommer zwei Rudel gebildet haben, also ein territoriales Paar, das Nachwuchs bekommen hat. Ein solches Rudel gibt es im Truppenübungsplatz Grafenwöhr, ein weiteres im Nationalpark Bayerischer Wald, länderübergreifend nach Tschechien. In Oberfranken sind weitere einzelne Wölfe genetisch nachgewiesen, bei Hohenfels und Pegnitz. Es können aber jederzeit und überall in Bayern Jungwölfe auftauchen, die ihr Rudel verlassen und sich auf Partnersuche begeben haben.
Ist es ein Alarmsignal, wenn sich ein Wolf, wie bei Neuendorf geschehen, in unmittelbarer Nähe zu menschlichen Siedlungen bewegt? Hat ein solches Tier seine natürliche Scheu verloren?
Wotschikowsky: Junge Wölfe benehmen sich wie Teenager der menschlichen Art. Sie kennen sich nicht aus in der Welt und erkunden die Umgebung. Gefährlich ist ein solcher Wolf in keinster Weise. In den letzten 70 Jahren gab es in Europa, wo 12 000 Wölfe in der Kulturlandschaft leben, keinen einzigen Angriff von Wölfen auf Menschen.
Sind dennoch Vorsichtsmaßnahmen angebracht, beispielsweise beim Waldspaziergang?
Wotschikowsky: Ein Wanderer im Wald wird eher von einem herunterfallenden Ast erschlagen als von einem Wolf angegriffen. Man kann wie bisher in den Wald gehen.
Was aber ist, wenn ein Hundehalter beim Gassigehen einem Wolf begegnet?
Wotschikowsky: Hunde, die nicht absolut zuverlässig gehorchen, sollte man im Wald anleinen. Das gehört sich grundsätzlich auch zum Schutz von Wildtieren so. Für einen herumstreunenden Hund ist ein einzelner Wolf keine Gefahr. Kritisch könnte es werden, wenn es ein territoriales Wolfspaar gibt. Das verteidigt sein Revier gegen Artgenossen. Ein Hund muss dort damit rechnen, dass er von den Wölfen umgebracht wird. Was man in einem Wolfsgebiet außerdem nicht machen sollte, ist, fleischige Lebensmittel auf den Komposthaufen zu werfen. Aber so etwas hat dort ja ohnehin nichts verloren.
Wie verhält es sich mit Jagdhunden, die freilaufend im Wald im Einsatz sind?
Wotschikowsky: Es gibt jetzt seit 17 Jahren Wölfe in Deutschland. Und noch keinem einzigen Stöberhund ist seither auf der Jagd, wie wir sie betreiben, etwas durch Wölfe passiert – sehr wohl aber durch Wildschweine oder übereifrige Jäger.
Dennoch gibt es den Begriff des Problemwolfs – auch in Deutschland.
Wotschikowsky: Es gab in Deutschland eigentlich nur einen richtigen Problemwolf: „Kurti“ in Niedersachsen. Er steht jetzt ausgestopft im Landesmuseum in Hannover, nachdem er erschossen wurde. Das Tier stammte aus dem Truppenübungsplatz Munster, wo die Wölfe offensichtlich aus dem Panzer heraus von Soldaten gefüttert wurden. Diese Wölfe haben sich näher an Menschen rangetraut, als es üblich ist. In solchen Fällen sollte nicht viel Federlesens gemacht werden: So ein Wolf gehört erschossen. Es geht darum, der Bevölkerung Ängste zu nehmen. Die Menschen müssen sehen, dass eingegriffen wird, wenn sich etwas bedenklich entwickelt. Es gibt mittlerweile rund 600 Wölfe in Deutschland. Warum soll man da nicht einmal einen erschießen, bei dem man nicht genau weiß, wie es mit seinem Verhalten weitergeht. Da bin ich eher für die harte Linie.
Überall, wo Wölfe auftauchen, versetzt das die Menschen in Aufregung. Ist das ein Dauerzustand?
Wotschikowsky: Die Stimmung beruhigt sich stets, wenn Wölfe irgendwo über längere Zeit leben. Irgendwann redet man gar nicht mehr drüber. Keiner hat mehr Angst. Es gibt Wander- und Radwege mitten in Wolfsgebiete hinein. Es kommen Touristen, die sich freuen wie Kinder, wenn sie eine Wolfsspur sehen.
Wie groß ist die Chance, dass man einen Wolf in freier Natur zu Gesicht bekommt?
Wotschikowsky: Das ist extrem selten. Ich befasse mich seit Jahren intensiv mit dem Wolf. Gesehen habe ich ihn in Deutschland bisher erst viermal.
Es gibt Gruppen, die den Wolf am liebsten nirgendwo sehen wollen, Schäfer und Jäger etwa.
Wotschikowsky: Bei den Jägern ist der Konflikt nur vorgeschoben. Wir haben derart viel Wild draußen, dass Jäger keine Sorgen haben müssen. Für die Schafhalter ändert sich die Situation. Sie müssen ihre Herden gegen Wölfe sicher schützen. Für Vorbeugemaßnahmen wie Elektrozäune bekommen sie Geld, auch für Verluste durch den Wolf.
Wird irgendwann wieder ganz Deutschland vom Wolf besiedelt sein?
Wotschikowsky: Nein. Der Wolf wird sich nicht überall wohlfühlen. Was soll er in Agrarlandschaften mit riesigen Maisäckern anfangen, die irgendwann umgepflügt werden. Nur rund ein Drittel der Landesfläche Deutschlands bietet für den Wolf gute Bedingungen. Prädestiniert sind große Waldgebiete wie eben Spessart, Steigerwald, Rhön, Odenwald, Frankenwald oder auch der Thüringer Wald. Dorthin wird sich der Wolf Schritt für Schritt weiter ausbreiten. Er ist nicht aufzuhalten.
Ulrich Wotschikowsky (77) ist gelernter Forstmann und Wildbiologe. Er lebt in Oberammergau und befasst sich seit Jahrzehnten intensiv mit heimischen Wildtieren. Er war stellvertretender Leiter des Nationalparks Bayerischer Wald und hat im In- und Ausland zu Rotwild, Rehen, Wildschweinen und zum Wolf geforscht. Zum Thema Wolf betreibt er die Internetseite www.woelfeindeutschland.de