Seit 2001 besuchen Schüler des Gemündener Friedrich-List-Gymnasiums bei der jährlichen FLG-Exkursion nach Osteuropa auch Auschwitz. Erwin Schneider, 65, Lehrer für Geschichte, Deutsch und Geographie, hat die Exkursion selbst schon elfmal geleitet. Dass Schüler einmal das vor jetzt 75 Jahren befreite KZ Auschwitz besuchen, ist ihm sehr wichtig. Mit Dachau oder Buchenwald sei das nicht zu vergleichen. "Die Brutalität ist in Auschwitz ganz anders." Das liege auch an der alten Ausstellung im Stammlager, die aus den 1960ern stammt und in Schaufenstern Haare, Schuhe, Zahnbürsten und Koffer mit Namen darauf zeigt. Schneider: "Da habe ich oft erlebt, dass vor allem Mädchen einfach das Heulen angefangen haben." Das gehe wirklich an die Nieren.
Betroffen mache auch ein kleiner idyllischer Teich auf dem KZ-Gelände Birkenau. Der Teich wird "Ascheteich" genannt, dort hinein sei der Großteil der Krematoriumsasche gekippt worden. Der Ort ist somit so etwas wie der größte Friedhof der Welt. Q12-Schüler Michael Kurz aus Zellingen, 17, war 2018 mit Schneider dort. Er habe es krass gefunden, als er bei der Führung durchs KZ auf einem Schaubild sah, wo die ganze Asche auch außerhalb des Geländes verteilt ist – und feststellte, dass die Jugendherberge, in der sie die Nacht davor übernachtet hatten, genau in dem Bereich liegt.
Warum Schüler nach Auschwitz fahren sollten
Warum Auschwitz? "Das war das zentrale Vernichtungslager in Polen", sagt der aus Fellen stammende Schneider. Dort wurden zwischen 1,1 und 1,5 Millionen Menschen umgebracht. Was man im KZ Auschwitz erlebt, damit könnten kalte Fakten der Historiker nicht mithalten. Schneider drückt es so aus: "Man kann wochenlang Geschichtsunterricht halten – dieser eine Tag in Auschwitz ersetzt das alles." Schülerin Franziska Prizkau, 17, aus Mittelsinn findet: "Das mal alles hautnah zu sehen, ist noch mal eine ganz andere Erfahrung, als das alles trocken im Unterricht durchzunehmen." Das Ziel ist laut Schneider, dass die Schüler an einem solch historischen Ort etwas über die Geschichte lernen und damit konfrontiert werden.
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Aus seiner Sicht ist ein Schlussstrich unter die NS-Verbrechen nicht möglich. "Das geht nicht, das ist ein Teil unserer Geschichte, mit dem wir umgehen können müssen." Die Verbrechen der Nazis, die "fabrikmäßige Vernichtung" von Menschen, seien in Umfang und Methode einzigartig in der Geschichte. Kein Geschichtsthema interessiere die Schüler mehr als das Dritte Reich. Es gehe dabei nicht darum, dass sie Schuldgefühle entwickelten. Der Lehrer ist vielmehr der Meinung, Schüler müssten mit der "Vogelschiss"-Verniedlichung des Dritten Reiches durch AfD-Politiker Gauland umgehen lernen. "Das ist eine unerträgliche Bagatellisierung." Gerade bei den rechtsradikalen Tendenzen heute in unserer Gesellschaft müsse man die Schüler wehrhaft machen.
Lehrer Schneider: "Diese menschliche Verrohung ist etwas, was ich nicht verstehen kann"
Schneider hat viel über Auschwitz gelesen. Ihn stoßen die perversen pseudowissenschaftlichen Versuche des KZ-Arztes Mengele ab. Über den Lagerleiter Rudolf Höß hat er gelesen, dass er mit seinen vier Kindern direkt am Lager gelebt habe, das fünfte sei in Auschwitz auf die Welt gekommen. "Der wird als der liebste Familienvater beschrieben. Der geht in das Lager rein und ist eine Bestie." Ein ehemaliger Häftling habe in seinen Erinnerungen niedergeschrieben, wie ein SS-Mann im KZ auf eine Mutter mit zwei Kindern an der Hand und einem Säugling auf der Schulter traf. Erst habe er die zwei Kinder, dann den Säugling und am Ende die Mutter erschossen. "Diese menschliche Verrohung ist etwas, was ich nicht verstehen kann", sagt der 65-Jährige.
Die "Authenzität des Ortes" wirkt offenbar. Ihn beeindrucke jedes Mal, wie die Schüler, die eben noch fröhlich waren, beim Betreten des Lagers ruhig werden. "Da muss man gar nichts sagen, man sieht auch die Betroffenheit." Über Stunden spreche praktisch keiner. Das hat 2018 auch Jan Knees aus Burgsinn, ebenfalls Schüler der Q12, gemerkt: "Dieser Ort hat eine eher lebendige Jahrgangsstufe aus gut 40 Leuten zum Schweigen gebracht." Acht Stunden dauert die Führung, die zunächst durchs Stammlager und dann durch das große Lager Birkenau mit seinen vier Krematorien führt. Sein Schulkamerad Michael Kurz berichtet von Kinderzeichnungen in einer Hütte, Zeichnungen und Ritzungen an Betten und Wand, das habe ihn sehr berührt. Dass zum Teil mit Edding darüber geschmiert wurde, habe ihn aufgeregt.
Intensive Vorbereitung, auch mit "brutalen Bildern"
Das respektvolle Verhalten seiner Schüler liegt auch an der intensiven Vorbereitung. Eltern und Schüler kriegen einen Einführungsvortrag, "damit die Eltern wissen, was wir den Schülern zumuten". Dabei würden auch "brutale Bilder" gezeigt. Jetzt im Januar war der für die nächste Exkursion im Sommer. Die Teilnahme sei freiwillig. Aber: "Es ist eine Ausnahme, wenn jemand nicht mitfährt." Die Exkursion sei sehr begehrt. Zahlen müssten die Schüler bzw. Eltern jedoch selber, Auslandsfahrten würden in Bayern nicht finanziell bezuschusst. Damit es für den Einzelnen billiger wird, nimmt Schneider auch Bekannte mit, wenn noch Plätze frei sind. 2018 ist etwa der Bundestagsabgeordnete Bernd Rützel privat mitgefahren.
Sollten alle Schüler einmal ein KZ besuchen? Schneider erzählt von einem Freund, der einmal mit dabei war, und der hinterher gesagt habe: "Das gibt's doch nicht, das muss der Staat doch bezahlen, was ihr hier macht. Das ist so wichtig für die Jugendlichen." Ein weiterer Freund habe gesagt: "Das müsst ihr jedem Schüler zeigen. Das ist so wichtig." Die Rückmeldungen von den Schülern zeigen, dass sie den Besuch in Auschwitz unheimlich wertvoll fanden. Manche führen sogar zweimal mit.
Auschwitz für jüngere Schüler traumatisierend
Ursprünglich sei die erste fünftägige Osteuropa-Exkursion, die nicht nur nach Auschwitz, sondern auch nach Prag, Krakau, Breslau und Dresden führt, 2001 nur für den Leistungskurs Geschichte geplant gewesen. Aber schnell zeigte sich, dass sie so nicht finanzierbar gewesen wäre, also fährt seitdem die ganze Jahrgangsstufe. Jetzt im G8 fahre er mit den 10. Klassen, früher mit 11. oder 12. Klassen. Schneider: "Drunter geht's auf gar keinen Fall." Mit der 9. Klasse würde er nicht nach Auschwitz fahren. Ihn habe schockiert, wie einmal eine polnische Grundschulklasse mit ihrem Lehrer ins Krematorium ging. "Die Kinder werden traumatisiert da drin."
Von Auschwitz aus geht die Fahrt direkt ins schöne Krakau. "Ich will, dass die Schüler erst einmal abgelenkt werden von diesen brutalen Eindrücken", sagt Schneider. Vergessen würden sie sie eh nie und im Nachhinein werde die Exkursion nachbereitet. Auch in der 11. Klasse ist die NS-Zeit noch einmal Thema. "Wichtig ist es, dass die Schüler verstehen, wie es so weit gekommen ist. Was ist 1933/34 passiert?" Die Auflösung der demokratischen Strukturen sei ja in manchen Ländern aktuell wieder zu beobachten. Und auch in Deutschland scheinen Demokratiemüdigkeit und Geschichtsvergessenheit zuzunehmen.