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WOLFSMÜNSTER: Flucht und Vertreibung: "Es war alles viel grausamer als in Filmen"

WOLFSMÜNSTER

Flucht und Vertreibung: "Es war alles viel grausamer als in Filmen"

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    Erinnerung an die alte Heimat: Maria Voll zeigt am Küchentisch Fotos und ein Buch über die Stritschitzer Sprachinsel in Böhmen, wo sie und ihre Familie bis 1945 lebten.
    Erinnerung an die alte Heimat: Maria Voll zeigt am Küchentisch Fotos und ein Buch über die Stritschitzer Sprachinsel in Böhmen, wo sie und ihre Familie bis 1945 lebten. Foto: Foto: Wolfgang Schelbert

    Eigentlich wollte Maria Voll von den Bräuchen ihrer ehemaligen Heimat in Südböhmen erzählen. Doch die Vergangenheit holte die 84-jährige Wolfsmünsterin ein. „Ich kann gar nicht sagen, was den Leuten alles Grausames widerfahren ist!“, sagt sie mit bebender Stimme und berichtet von Vertreibung, Flucht und einem Jahr voller Erniedrigungen, Entbehrungen und von dem Neuanfang in der Fremde.

    Maria Voll wurde 1929 als drittes von fünf Kindern von Maria und Johann Pöschl im böhmischen Linden geboren, einem deutschsprachigen Dorf in der Nähe von Budweis und Teil der Stritschitzer Sprachinsel, wo sie bis zum elften Lebensjahr geborgen aufwuchs. Dann begann der Zweite Weltkrieg, der für sie und viele Menschen im Chaos endete.

    „Immer heißt es nur, wir sind an allem schuld“, klagt sie. „Doch was den Deutschen im heutigen Südtschechien angetan wurde, darüber berichtet fast niemand. Was sie in den Filmen zeigen, ist ja gar nichts. Das war alles viel grausamer.“ Im Juni 1945 wurde die Familie ohne Vorwarnung von ihrem Hof vertrieben. Innerhalb einer halben Stunde hatten sie das Gehöft zu verlassen und alles, außer den Kleidern am Leib, zurückzulassen: „Wir hatten plötzlich nichts mehr.“

    Die Tschechen holten sie ab, trennten sie von der Mutter und den beiden jüngeren Brüdern – der Vater und zwei ältere Brüder waren im Krieg – und brachten Maria in einem kleinen Zimmer auf einem tschechischen Bauernhof mit einem kommunistischen Verwalter unter. Von da an waren sie nur noch geduldete Deutsche, die zum Arbeiten eingesetzt wurden. Maria musste Kühe melken, Ställe ausmisten, Mist ausfahren, das Vieh versorgen, stricken und nähen. „Eines Abends“, erzählt sie, „zog ich mein einziges Paar Strümpfe aus und am nächsten Morgen waren sie weg.“ Deswegen ging sie eine Zeit lang barfuß in Holzschuhen und trug Erfrierungen davon.

    Nachts kamen oft die Russen aus dem nahen Lager und holten sich Mädchen aus den Bauernhäusern. „Wir hörten das Pferdegetrampel und haben uns immer auf dem Hof versteckt.“ Einmal habe ein Russe mit einer Heugabel direkt neben ihr ins Heu eingestochen, aber habe sie nicht entdeckt. Ein anderes Mal hätte sie einer fast erwischt, als sie zum Nachbarhof rannte. „Wenn ich alleine bin, dann sehe alles wie in einem Film vor mir: der Heuboden, die Verstecke, die Angst und die schwere Arbeit“, sagt Maria Voll und das Entsetzen ist ihr noch anzumerken.

    Im Dezember 1945 kam ihr Cousin aus der Gefangenschaft zurück. Mit ihm und dem älteren der beiden Brüder plante sie die Flucht, die sie am zweiten Weihnachtsfeiertag in den Westen führte, weg von Ausbeutung, Willkür und Demütigungen. Die Mutter mit dem jüngsten Bruder ließen sie schweren Herzens zurück. Sie schlugen sich durch den verscheiten Böhmerwald und erreichten am Neujahrstag Haidmühle im Bayerischen Wald. Dort kamen sie bei einem Bauern unter und halfen auf dem Hof. „Ich hab immer einen Schutzengel gehabt und bin Gott dafür dankbar.“

    Bei einem Kirchgang im Sommer traf sie Bekannte aus der Heimat, darunter den Sohn des Nachbarn, der zurück in die Heimat wollte. Doch sie warnte ihn und erzählte, dass sie hatte ansehen müssen, wie Tschechen einen Soldaten mit einer Schlinge um den Hals auf ein Pferd gesetzt und dieses fortgejagt hatten, sodass der Soldat am Baum baumelte. Sie erzählt von Männern, die geschlagen, erschlagen oder gehängt wurden, von Frauen, die Freiwild waren für Tschechen und Russen, davon, dass den Deutschen alles abgenommen wurde. Sie durften kein Fleisch essen, bekamen kein Mehl, keine Eier, keine Milch. „Ich bebe heute noch innerlich, wenn ich darüber nachdenke und darüber rede“, sagt Maria Voll. Sie hatte von einer deutschen Zahnärztin gehört, die ein Pferd zu Tode schleifte, von einem Mann, den Partisanen grausam im Löschweiher ertränkten.

    Später erfuhr Maria von der Ausweisung der Deutschen nach Bayern und machte mithilfe des Suchdienstes des Roten Kreuzes den Aufenthaltsort der Mutter in Dittlofsroda ausfindig. Im Herbst 1946 fuhr Maria zum ersten Mal zu ihr. Sie hatte damals das Gefühl sie „ersticke in diesen engen Tälern“, erinnert sich noch an die Zugfahrt durch das Saaletal. Hier könne sie nicht bleiben, auch wenn die Sehnsucht nach der Mutter groß sei, dachte sie. Doch sie blieb, fand Arbeit im Kinderheim im Schloss in Wolfsmünster, lernte ihren Mann Anton kennen, mit dem sie 34 Jahre verheiratet war, bis er 1986 starb. Heute wohnt der jüngste Sohn bei ihr im Haus, und sie freut sich, wenn die beiden anderen Söhne, die Tochter, die acht Enkel und der Urenkel zu Besuch kommen.

    Die Deutschen in Böhmen und in der Stritschitzer Sprachinsel

    Im 12. und 13. Jahrhundert kamen deutsche Siedler nach Südböhmen, die Stritschitzer Sprachinsel entstand. König Ottokar II. von Böhmen gründete über 60 deutsche Städte in seinem Reich, darunter Budweis. Die Siedler kamen aus Oberösterreich, der Oberpfalz, Niederbayern, Thüringen und Franken in die kaum erschlossenen südböhmischen Bezirke und den Böhmerwald.

    Nach den Pariser Unruhen und der Revolution von 1848 erfassten die Ereignisse auch die böhmischen Länder. Es entwickelte sich ein Grundkonflikt zwischen Deutschen und Tschechen. Doch Böhmen blieb weiterhin eine abhängige Provinz der Habsburger mit zwei Sprachen. Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges und der Niederlage Österreich-Ungarns wurde im Oktober 1918 die Tschechoslowakische Republik ausgerufen. Aus Österreichern wurden tschechoslowakische Staatsbürger. Die Deutschen verloren ihre Privilegien in der Staatsverwaltung, Wirtschaft und Kultur. Die Regierung wollte versuchte, die „Tschechisierung“ der deutschsprachigen Gebiete voranzutreiben.

    Hitlers Botschaft vom „Großdeutschen Reich“ und die Losung „Heim ins Reich“ fielen auch bei den Deutschen in Böhmen auf fruchtbaren Boden. Im Oktober 1938 besetzte die Wehrmacht die deutschsprachigen Gebiete in Tschechien, im März 1939 den Rest des Landes. Im April 1945 zogen Flüchtlingstrecks und Kolonnen deutscher Soldaten durch die Dörfer der Sprachinsel nach Westen und am 9. Mai rückten russische Panzer ein.

    „Die Vertreibung der Lindener begann am 20. Januar 1946 mit organisierten Transporten. Zusammen mit Familien aus Hollschowitz, Saborsch, Dobschitz und Stritschitz kamen die meisten Lindener in das Lager nach Budweis und von dort mit Viehwaggons ins Frankenland in die Kreise Gemünden, Hammelburg und Karlstadt“ ist im Buch „Die Stritschitzer Sprachinsel in Südböhmen“ zu lesen.

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