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GEMÜNDEN/KARLSTADT: Mit Scherben zurück ins Leben

GEMÜNDEN/KARLSTADT

Mit Scherben zurück ins Leben

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    Es gibt zwei Arten von Scherben, die Maras Leben bestimmen: Die einen sind aus Glas, rot, gelb oder grün und ergeben zusammengesetzt schöne Bilder. Die anderen sind in Maras Kopf: Sie muss sie täglich überwinden, um mit anderen Menschen zu kommunizieren.

    Die Krankheit der jungen Adelsbergerin ist so unbekannt wie ihr Beruf selten: Seit einem Unfall vor neun Jahren ist Mara Aphasikerin. Es war ein Sommertag, der das Leben der Familie veränderte. Mara fuhr auf dem Moped ihres Bruders mit. Sie waren auf dem Weg zu einer Grillparty, als ein Autofahrer sie beim Linksabbiegen übersah: Ihr Bruder wurde leicht verletzt. Mara erlitt schwere Kopfverletzungen.

    Das Malen macht Spaß

    Gezielt greift die 23-Jährige zu einem Glasschneider. Ihre zierlichen Finger zögern keine Sekunde, sie wissen, was zu tun ist: In der Werkstatt ihres Ausbilders Wolfgang Feige in Karlstadt schneidet Mara das Glas, sie bricht es, sie beherrscht die komplizierten Techniken der Glasmalerei, sie weiß, wie man die unterschiedlichen Farbtöne mischt, wie man Schattierungen auf Gesichter bringt und Bilder zum Leben erweckt. Gerade hat sie drei eigene Entwürfe für große Glasparavane hergestellt. Einer symbolisiert die Sonne. „Ich liebe die Sonne“, sagt Mara. Ihre dunklen Augen sagen noch mehr: Wenn Mara von ihrer Arbeit erzählt, leuchten sie: „Andere Glaser schneiden nur Quadrate. Das ist doch langweilig. Ich kann eigene Entwürfe machen und vor allem das Malen macht Spaß.“

    Vor neun Jahren war daran nicht zu denken. „Wir haben etwa auf dem Stand einer Zweijährigen neu angefangen“, sagt Hanni Graf, Maras Mutter. Nach vielen komplizierten Operationen folgten Jahre mit Rehamaßnahmen. Neurologen, Psychologen und Logopäden behandelten Mara. Sie sprach kein Wort mehr. Nicht nur die Wörter waren weg, auch die Zusammenhänge waren zerstört – und sind es zum großen Teil heute noch. „Sie weiß zum Beispiel nicht mehr, was Zimt ist“, erklärt Hanni Graf. „Aber nicht nur das Wort Zimt ist weg, sondern auch, dass es ein Gewürz ist, dass es was mit Schmecken und Riechen zu tun hat.“ Eine neue Sprache zu lernen, sei demgegenüber ein Kinderspiel.

    „Die Bilder sind immer da“, sagt Mara und beschreibt mit den Händen ein Labyrinth in der Luft. „Nur manchmal suche ich nach einem Weg für den Ausdruck.“ Dann fühle sie sich ein bisschen wie gefangen. „Im Kerker der Sprachlosigkeit“, sagen Aphasie-Spezialisten dazu.

    Das hat auch die Anfangszeit bei ihrer Ausbildung schwer gemacht. „Nach dem ersten viertel Jahr ging es bergauf“, sagt Feige. Nach einem Praktikum hat er Mara angeboten, sie auszubilden. „Ich dachte, wir probieren es mal“, sagt Feige. Nach seinen Recherchen ist er deutschlandweit der einzige, der einen Aphasiker in einem handwerklichen Beruf ausbildet. Heute ist Mara im dritten Ausbildungsjahr und Feige hat es nicht bereut. „Sie hat die Arbeit im Blut.“ Geduldig hat er ihr immer wieder die Begriffe für die unterschiedlichen Werkzeuge erklärt. Nicht einmal oder zweimal, sondern hundertmal. Obwohl Mara den Unterschied zwischen einem Bleimesser und einem Glasschneider kennt, kann sie die beiden auf Zuruf nicht voneinander unterschieden. „Ich reiche ihm dann irgendetwas, oft ist es richtig“, sagt Mara und lacht.

    Fluch und Segen zugleich

    Ihr erstes Wort nach dem Unfall war „Callas“. Mara hatte ihren Hund wiedererkannt. Ihre Freunde kannte sie zum Teil nicht mehr. „Mir fehlt etwa ein halbes Jahr vor und nach dem Unfall“, sagt Mara. Heute gilt sie als schwerbehindert. Aber wenn sie spricht, merkt man ihr die Krankheit nicht sofort an. Das ist Fluch und Segen zugleich. Die 23-Jährige geht auf eine normale Berufsschule. „Ich gehe dort nicht gerne hin“, sagt sie. „Manche sagen, dass ich dumm bin, aber das bin ich nicht. Ich mag es überhaupt nicht, wenn sie hinter meinem Rücken so etwas sagen. Dabei kennen sie mich doch gar nicht.“

    Mara mag eine Menge sein: Eigensinnig, frech zu ihrer Mutter, launisch und liebenswert. Aber dumm ist sie nicht. Monate nach ihrem Unfall löste sie komplizierte Mathematikrechnungen – nur die Textaufgaben verstand sie nicht. Bei ihrem letzten Zeugnis von der Berufsschule hatte sie einen Durchschnitt von 2,8 – eine Eins ausgerechnet in Deutsch. „Im Unterricht haben sie Grammatik durchgenommen, das war von Maras Lateinunterricht alles noch da“, erklärt ihre Mutter. Und ausländische Freunde freuen sich immer, Mara zu sehen: Sie spreche das beste Deutsch.

    „Die Bilder sind immer da, nur manchmal suche ich nach einem Weg für den Ausdruck.“

    Mara Graf Aphasikerin

    Sechs Jahre nach dem Unfall erfüllte sich Mara im Alter von 20 einen großen Traum: Sie machte ihren Führerschein. „Ihr bildliches Gedächtnis ist sehr gut“, sagt Hanni Graf. Probleme hätte es nur bei der praktischen Prüfung geben können: „Wenn Lehrer so harte Sätze sprechen, verstehe ich es oft nicht“, sagt Mara. Mit „hart“ meint sie zum Beispiel konkrete Fragen oder Anweisungen wie „bitte rechts abbiegen“. Dann muss Mara überlegen, „was noch einmal rechts bedeutet, oder abbiegen“. Wenn sie hingegen einfach zur Firma Feige in Karlstadt fährt, dann biegt sie richtig ab, ohne zu überlegen – denn sie kennt den Weg.

    „Legastheniker dürfen einen Logopäden hinzuziehen, Ausländer einen Dolmetscher, wir durften keine Hilfe bei der Prüfung in Anspruch nehmen“, ärgert sich Hanni Graf noch heute. Dennoch: Der Fahrlehrer war schon an Mara gewohnt und gab sich Mühe, die Anweisungen für sie verständlich zu formulieren. Mara machte ihren Führerschein beim ersten Versuch. Kunstglaser Wolfgang Feige ist sich sicher, dass sie auch ihre Gesellenprüfung im nächsten Jahr bestehen wird.

    Vor ihrer Ausbildung führte Mara Graf von September 2004 an die Galerie im Oberen Tor in Karlstadt unter der kommissarischen Leitung von Katja Eirich. Als sie im September 2005 ihre Ausbildung begonnen hatte, ließ sich beides nicht unter einen Hut bringen.

    Stichwort

    Aphasie Das Wort stammt aus dem Griechischen und bedeutet ursprünglich „ohne Sprache“. Aphasie bezeichnet eine Sprachstörung nach einer neurologischen Erkrankung (Schlaganfall, Schädelhirntrauma, Gehirnblutung, Tumore). Andere Sprachstörungen, wie eine verzögerte Sprachentwicklung bei Kindern, werden nicht zu den Aphasien gerechnet. Die sprachlichen Störungen bei Aphasie können sehr unterschiedlich sein. Oft sind sprachliche Fähigkeiten lediglich eingeschränkt, zum Beispiel das Finden der richtigen Wörter. Es ist aber auch möglich, dass das gesamte Sprachverständnis verloren geht. Aphasiker sind nicht geistig behindert: Die Sprache ist gestört, nicht das Denken und Wissen der Betroffenen.

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