Wer an dem unscheinbaren Fachwerkhaus in Roden vorbeifährt, ahnt nicht, dass sich darin Stickmaschinen, verschiedenste Stoffe und eine Sammlung mystischer Gewänder befinden. Birgit Scherg-Nickel, gelernte Hauswirtschafterin, kann schon ewig nähen, erzählt sie. Doch regelmäßig habe sie erst damit angefangen, nachdem ihre Kinder sie gebeten hatten, ihnen für ein Live-Rollenspiel-Treffen Gewänder zu erstellen. Handgemachte Kostüme sähen eben doch besser aus als aus der Massenproduktion, fanden sie.
"Live Action Role Play", kurz LARP, ist wie ein Film oder ein Theaterstück ohne Skript. Bei diesem interaktiven Schauspiel tauchen Spieler in Rollen ein und spielen Szenarien in einer Fantasiewelt nach. Meist stammen die Themen der Rollenspiele aus dem Mittelalterlichen Bereich oder aus der Science-Fiction-Szene. In ganz Europa, auch in Deutschland, finden jährlich Treffen statt, bei denen die Spieler ein Wochenende lang das Leben eines anderen führen. Die Teilnehmer legen dabei Wert auf ein authentisches Aussehen der Kostüme, doch das bringt oftmals unbequeme Nähte oder kratzende Stoffe mit sich. Hier kommt Scherg-Nickel ins Spiel: "Ich verbinde das historische Aussehen und eine moderne Funktionsweise miteinander."
Im Mittelalter hatten Hosen noch keine Taschen
Ihr Herzstück sind die mittelalterlichen Hosen. Diese hat sie mithilfe versteckter Taschen und unsichtbarer Gummibünde so entworfen, dass ihre Kunden sie sowohl auf dem LARP-Schlachtfeld als auch auf der Arbeit tragen können. "Im Mittelalter hatten Hosen noch keine Taschen, aber heutzutage will niemand mit einem Beutel um die Brust rumlaufen, um dort sein Handy heraus zu kramen. Deshalb habe ich versteckte Hosentaschen in meine Hosen eingebaut, die Leute lieben sie", erzählt die Hobbyschneiderin.

Sie erzählt, dass ihre meist männlichen Kunden eine bestimmte Vorstellung der Rolle haben, die sie verkörpern wollen. Sie wiederum hat eine Vorstellung davon, wie man mit den Arbeitsmaterialien umgeht. Wenn jemand durch Mundpropaganda oder auf einem mittelalterlichen Treffen auf sie aufmerksam wird, setzen sich die Leute zuerst online mit ihr in Verbindung. Viele ihrer Kunden kommen aus allen Ecken Deutschlands, einige sogar aus dem europäischen Ausland, wie Dänemark. Nachdem sie mit dem Kunden online gemeinsam eine Übersicht erstellt hat, um eine Vorstellung vom gewünschten Ergebnis zu haben, reist der Kunde an, um das Kostüm zu erstellen.

Ein Gewand bedeutet Teamwork und tagelange Arbeit
Bei ihrem Besuch dürfen die Kunden sogar bei ihr im Haus übernachten, denn in Roden gibt es nicht viele Unterkünfte für Touristen. Dann werden die Maße genommen: Viele ihrer Kunden sind große, stämmige Männer. Sie würden in herkömmlichen Kostümläden vermutlich keine Gewandung finden, die gut sitzt, erzählt sie. Außerdem ist jedes ihrer Stücke ein Unikat. Selbst bei Musterstücken, wie einem mittelalterlichen Hemd, können Sonderwünsche zu Nähten, Knöpfen und Stickereien geäußert werden. Wer will, darf gerne mit basteln, wenn Scherg-Nickel schneidet, klebt und näht. Beim Sticken hilft ihr auch gerne ihr Lebensgefährte, Thomas Wiesenthal. Die beiden haben sich vor zwei Jahren kennengelernt, da er ihr eine Stickmaschine verkauft hat. Seitdem taucht er auch regelmäßig mit ihr in die Welt des LARP ein.

Mittlerweile steht in ihrem Hinterzimmer eine ganze Werkstatt
Durch ihren aus der Stickmaschinen-Branche kommenden Partner hat sie davon einige im Haus stehen. Sie kommen zum Einsatz, wenn jemand das Logo seines Wikinger-Teams oder seiner Mittelalter-Sippe auf einem Mantel, einer Kappe oder auf einem Banner braucht. Letztere sind teilweise so groß wie eine Tür und das Aushängeschild einer Gruppe bei einem LARP-Treffen. Inzwischen hat Scherg-Nickel auch schon Anfragen von Motorradclubs aus der Region bekommen, die auch ein Banner von ihr bestickt haben möchten. Ihre sorgfältige Arbeit werde geschätzt, erzählt sie.
Auf die Frage, was sie dazu gebracht hat, so einen großen Teil ihres Lebens der LARP-Schneiderei zu widmen, erzählt sie, dass sie es liebe, sich kreativ auszuleben. Außerdem meint sie, es sei von Vorteil, dass sie ihr Handwerk durch Ausprobieren gelernt habe und nicht durch eine Schule oder Ausbildung. Sie denke dadurch freier und traue sich, auch unkonventionelle Methoden anzuwenden.

In den Wochen und Monaten vor großen Veranstaltungen häufen sich Anfragen bei Scherg-Nickel und manchmal bilden sich auch Wartelisten. Viele ihrer Kunden seien recht kurzfristig dran, doch sie finde immer eine Lösung. In der Zwischenzeit bilde sie sich mit Büchern zu mittelalterlicher Schneiderei weiter. "Damals hatten Kleider noch keine Rundungen, alles war eckig zugeschnitten und man musste schauen, wie man es förmig bekommt", erzählt sie. Herausforderungen wie dieser stellt sie sich gerne, denn mit jedem weiteren Teil lerne sie etwas dazu.