Bis zum Jahr 1863 gehörten Obersinn und Mittelsinn zu Hessen – zumindest teilweise. Dieses „teilweise“ hatte zur Folge, dass manche Obersinner und Mittelsinner Bayern, manche Hessen waren. In beiden Orten bestanden getrennte bayerische und kurhessische Gemeinden, damit auch eine geteilte Oberherrlichkeit. „Kondominat“ nannte sich dies. Es gab aber auch Angelegenheiten, in denen die Gemeinden eines Orts als eine Gemeinde auftraten. Das alles führte zu komplizierten Besitz- und Rechtsverhältnissen.
Darüber, dass deshalb mal bayerische, mal hessische Behörden, mal bayerische, mal hessische, mal Kondominatsgerichte zuständig waren und dies wohl nicht immer glatt ablief, schrieb zum Beispiel der Münchner „Volksbote für den Bürger und Landsmann“ am 28. Februar 1862: „Dies hat schon seit Jahren zu so vielen ärgerlichen Dingen und Unzukömmlichkeiten Anlaß gegeben, und ist für die Einwohner dort so wenig erfreulich, daß längst eine Änderung zu wünschen gewesen wäre.“
Grenz- und Hoheitsirrungen
So sah man das offensichtlich auch von offizieller Seite. Schon seit 1816 bemühte sich die Obrigkeit um eine Auflösung des Kondominats. Per Staatsvertrag zwischen dem Königreich Bayern und dem Kurfürstentum Hessen wurde 1860 schließlich geregelt, dass die Kondominatsdörfer Obersinn und Mittelsinn 1863 mit allem Grund und Boden, allen „Ortsangehörigen“ und allen „Bau-, Wohn- und Wirthschaftsstätten“ in den ausschließlichen Besitz Bayerns übergehen sollen. Grund, so ist in der Einleitung des Vertrages zu lesen, waren „verderbliche Nachtheile“ und „obwaltende Grenz- und Hoheitsirrungen“ durch das Kondominat. Dafür ging der Ort Züntersbach bei Bad Brückenau von Bayern an Hessen. Der schrittweise Übergang zog sich aber noch bis nach Ende des Deutschen Kriegs von 1866 hin.
Nicht jeder der hessischen Ober- und Mittelsinner – gegenüber ihren bayerischen Nachbarn in der Minderheit – wollte damals Bayer werden. Die Süddeutsche Zeitung berichtete am 24. Juni 1863, dass 17 Obersinner und 46 Mittelsinner an die kurhessische Ständekammer eine Petition um Nichtgenehmigung des Vertrages gerichtet hatten. Darin hoben sie hervor, dass sie sich „unter kurhessischem Regiment wohl gefühlt und stets als getreue ruhige Unterthanen gehalten hätten“. Laut der Kemptner Zeitung sollen sie zudem „auf den Namen Kurhessen immer stolz gewesen“ sein.
Außerdem – und das war wohl der springende Punkt – fürchteten die zwangsweise zu bajuwarisierenden Sinngründer laut Süddeutsche, „daß sie ihre Berechtigungen an den Condominatswaldungen einzubüßen Gefahr laufen würden und der Unterstützung der Landescreditkasse verlustig gingen“. Sollte der Vertrag doch genehmigt werden, drohten sie damit, nach Amerika auszuwandern oder sich auf hessischem Gebiet niederzulassen.
Dabei hatte schon 1849 die Gemeinde Obersinn um die Aufhebung des Kondominats gebeten. Dieses habe „die niederen Klassen demoralisirt, die Rechtspflege zum Stillstande gebracht und eine förmliche Rechtsunsicherheit hervorgerufen“, zitierte die Neue Münchener Zeitung die Eingabe. Am 20. November 1863 schließlich fand im Obersinner Schulhaus durch einen abgesandten „königlich bayerischen Kommissär“ die feierliche Übernahme von Obersinn und Mittelsinn durch Bayern statt.
Bis 1863 deutsches Staatsrecht
Für die Obersinner und Mittelsinner galt bis Ende 1863 das gemeine deutsche Strafrecht, ab dann jedoch bayerisches Recht. Dies warf bei Juristen einige Fragen auf, etwa bei bis dahin noch nicht abgeschlossenen Verfahren. So ging es etwa bei einem Tagelöhner aus Obersinn darum, wie er zu bestrafen sei. Der hatte im August 1863, also noch unter dem vorigen Recht, mehrere Kinder „im Alter von 5 bis 6 Jahren zu wiederholten Malen zur widernatürlichen Wollust mißbraucht“. Das Bezirksgericht Lohr kam 1864 zu dem Urteil, dass er noch nach dem milderen gemeinen Recht verurteilt werden müsse. Er musste für eineinhalb Jahre ins Gefängnis.
Ganz ohne Reibereien scheint der Übergang nicht vonstattengegangen zu sein. Am 16. Januar 1864 fanden in Mittel- und Obersinn Neuwahlen zur Gemeindeverwaltung statt. Dazu berichtet der neu gewählte Bürgermeister von Obersinn am 26. Februar 1864, dass der vorherige kurhessische Bürgermeister, der am 1. Dezember von seinen Dienstpflichten entbunden worden war, „nicht nur noch mit seinen vormaligen Untergebenen Sitzungen, Beratungen hält, wodurch die Einigung erschwert und der Gehorsam gegen die neue Ortsgewalt bei Seite gesetzt wird, sondern derselbe widersetzt sich auch der Herausgabe der ehemals churhessischen Gemeinderegistratur“. Aus Mittelsinn ist Ähnliches bekannt.
Sonderbarerweise sollen alle amtlichen Unterlagen, Urkunden und Niederschriften der ehemals kurhessischen Gemeinden in Obersinn und Mittelsinn „mit zwei Pferdefuhrwerken und Leiterwagen nach Orb verbracht und dort wahrscheinlich vernichtet“ worden sein. In der ab 1866 hessischen Stadt sollte offenbar ein Kapitel endgültig geschlossen werden.
Das Kondominat
Das Wort hat nichts Anrüchiges, sondern Kondominat lässt sich als „gemeinsame Herrschaft“ übersetzen. Schon seit dem ausgehenden Mittelalter war das Gebiet um Obersinn, Mittelsinn und auch Aura zwischen mehreren Herren mit zum Teil unterschiedlichen Konfessionen aufgeteilt, die immer wieder wechselten. Man sprach auch von der „Vierherrschaft“. Herren waren im Laufe der Zeit die Adelsgeschlechter von Thüngen und von Hutten, von Guttenberg und von Fronhofen, das Hochstift Würzburg, das Juliusspital Würzburg, die Landgrafen und Fürsten von Hessen und das Königreich Bayern. Aura wurde schon 1814 bayerisch. Auch in Rieneck bestand bis ins 19. Jahrhundert ein Kondominat.