Die Pogromnacht vor 75 Jahren war auch für den Kreis Gemünden eine der dunkelsten Stunden der Geschichte. Doch nicht wütende Volksgenossen und hauptsächlich „Auswärtige“, sondern meist einheimische SA-Leute waren es, die in allen Gemeinden, in denen jüdische Bürger lebten, am 9. und 10. November 1938 Wohnungen und Synagogen zerstörten und plünderten – und zwar meistens am helllichten Tag und vor den Augen der Bevölkerung. Das Ganze war nicht spontan, sondern generalstabsmäßig geplant. In Gemünden und Umgebung stärkten sich die heimischen SA-Leute zwischendurch in Gastwirtschaften und tranken Bier, danach zerstörten sie weitere Existenzen und letzte Illusionen der noch verbliebenen Juden.
Belege im Staatsarchiv
Akten des Staatsarchivs in Würzburg belegen gut, was die jüdischen Bürger damals erleiden mussten. In Mainfranken begann die „Judenaktion“ mit einem Fernschreiben von Reinhard Heydrich, Leiter des Sicherheitsdienstes und später des Reichssicherheitshauptamts, am späten Abend des 9. November. In Adelsberg und Heßdorf warfen angeblich ortsfremde Täter in Parteiuniform noch in der Nacht die Fensterscheiben der Synagogen und jüdischen Wohnungen ein. Möglich ist, dass es sich um Gemündener Nazis handelte, da diese sich am Abend des 9. November in ihrem Stammlokal versammelt hatten, um des an jenem Abend 1923 geschehenen Hitler-Marsches in München zu gedenken.
Am 10. dann – wohl fälschlicherweise war in Publikationen auch schon vom 9. die Rede, was vor der Pogromnacht gewesen wäre – wurde auf Geheiß des SA-Standartenführers aus Lohr morgens die Gemündener SA zusammengetrommelt. Zwischen 8 und 9 Uhr wurde die Wohnung von Nathan Baumann und die Gemündener Synagoge demoliert. Die Verantwortlichen sollen sich in der Gastwirtschaft Haas erst einmal Mut angetrunken haben. Womöglich waren sie dort noch vom Vorabend.
Der Gemündener Standartenführer versammelte gegen 9 Uhr etwa 14 bis 15 uniformierte SA-Leute und gab die Weisung aus, alle jüdischen Wohnungen in Gemünden zu verwüsten und Wertgegenstände sicherzustellen. Sie drangen alsdann in jüdische Wohnungen ein, insgesamt gab es noch etwa 20 Bürger jüdischen Glaubens, und schlitzten Betten auf, zerschlugen Geschirr, Möbel, Lampen. Weitere SA-Männer schlossen sich an. Nur das Haus des angesehenen Schuhhändlers Moses Birk, Inhaber des Eisernen Kreuzes aus dem Ersten Weltkrieg, blieb verschont – aber wohl nur, weil ein SA-Mann ein Auge darauf geworfen hatte und es nach Moses' Auswanderung auch bekam.
Gegen 11 Uhr versammelten sich die SA-Leute in der Gemündener Brauerei, wo sich laut einer Akte des Staatsarchivs auch die Geschäftsräume der NSDAP-Ortsgruppe befanden. Mit Motorrädern und Autos – eines davon beschlagnahmte ein SA-Mann von seinem jüdischen Arbeitgeber, der Firma Zucker, ein anderes stammte von einem Gemündener Zahnarzt – fuhren zehn bis zwölf Mann nach Adelsberg und wiederholten dort ihr schändliches Tun an jüdischen Wohnhäusern und der Synagoge. Die Adelsberger Juden waren als arm bekannt.
Größte jüdische Gemeinde
Um etwa 12.30 Uhr versammelte sich der Haufen in der Wirtschaft Michler und fuhr gegen 13 Uhr weiter nach Heßdorf, wo die größte jüdische Gemeinde im Raum Gemünden bestand. Auch dort wüteten sie in der Synagoge und in jüdischen Häusern, zu denen sie sich vom Bürgermeister führen ließen. Im Haus des jüdischen Oberlehrers fanden sie die in Sicherheit gebrachten Gebetsrollen und Kultgegenstände und verbrannten sie auf dem Platz beim Dorfbrunnen. Die Bevölkerung schaute in großer Zahl zu, Einzelne drangen auch mit in Häuser und die Synagoge ein. Manche der Vandalen kehrten noch in ein Heßdörfer Gasthaus ein, bevor es zwischen 16 und 17 Uhr zurück nach Gemünden ging.
Doch damit war der Schrecken für die jüdische Bevölkerung längst nicht ausgestanden. Am Abend des 10. Novembers drangen SA-Leute über den Dachboden eines angrenzenden Hauses in die Gemündener Synagoge und legten eine Zeitbrandbombe auf der Empore nieder. Diese explodierte um etwa 21.30 Uhr, bald quoll dichter Rauch aus den schmalen Rundbogenfenstern.
Von überall her kamen Schaulustige angelaufen, Anwohner forderten, den Brand sofort zu löschen, damit das Feuer nicht auf ihre eigenen Häuser übergriff. Auch obiger SA-Mann, der ein Auge auf das Eigentum von Moses Birk und ein Haus in der Nähe der Synagoge hatte, verlangte die Löschung. So vergingen nur wenige Minuten, bis die Feuerwehr am Brandherd eintraf. Nachdem die Feuerwehr den Brand gelöscht hatte, drangen SA-Leute in die Synagoge ein, warfen alles, was kostbar und nicht niet- und nagelfest war, auf einen Karren und transportierten es ab.
An den beiden Schreckenstagen wurden alle männlichen jüdischen Einwohner verhaftet. Am 11. November wurden mehrere jüdische Männer gedemütigt, indem die NSDAP-Ortsgruppe sie zwang, die Spuren der Zerstörung auf den öffentlichen Straßen und Plätzen zu beseitigen. Am 8. Dezember 1938 meldete der Gemündener Anzeiger, dass Gemünden „judenfrei“ ist. Die jüdische Gemeinde hatte aufgehört zu bestehen. Die Synagoge ging in städtischen Besitz über, wurde im Krieg durch amerikanische Bomben zerstört. Moses Birk gelang noch die Auswanderung in die USA, wo er 1989 im Alter von 101 Jahren starb.
Haftstrafe nie angetreten
Und die Täter? Zwölf Beteiligte der Übergriffe in Gemünden verurteilte das Landgericht Würzburg 1949 zu Haftstrafen zwischen drei Monaten und zwei Jahren. Allerdings: Ins Gefängnis mussten sie nicht. Sie gingen in Berufung, aber zu einer Berufungsverhandlung kam es nie.
Franz Holzemer
Dem kleinen Trupp marodierender SA-Leute standen viele schweigende Gemündener Bürger gegenüber, die das Treiben rund um die Pogromnacht mit Unbehagen betrachteten. Franz Holzemer aus der Mühltorstraße war einer von ihnen. Er stieß am 10. November, als die jüdischen Männer verhaftet worden waren, zu dem Kreis der verängstigten jüdischen Frauen im unzerstörten Haus von Schuhhändler Moses Birk und drückte den Frauen sein Bedauern über die unsäglichen Vorfälle aus. Auf Wunsch von Laura Sichel, die mit ihrem Mann einen Schuhladen betrieb, bis dieser beim Pogrom zerstört wurde, fuhr Holzemer am nächsten Tag nach Frankfurt, wo er sich nach dem Wohlergehen von Tochter Sidonie erkundigen sollte, die mit ihrem Mann gerade einmal fünf Tage zuvor dorthin gezogen war.
Holzemer bekam die Quittung für seine Menschlichkeit drei Wochen vor Weihnachten: mehrere Wochen Schutzhaft. Er habe sich laut Haftbefehl „in einen Gegensatz zur Rassenpolitik des nationalsozialistischen Staates“ gesetzt. Der Ortsgruppenleiter der NSDAP Gemünden Hans Wunner hatte am 12. November der örtlichen Gendarmeriestation gemeldet, dass Holzemer in der Pogromnacht mit den Juden in Verbindung gestanden habe. „Der Verkehr des Holzemer mit den Juden löst allgemeine Empörung aus und es ist unbedingt nötig, daß Holzemer in Polizeihaft genommen wird“, schrieb daraufhin die Polizei Gemünden an die Gestapo Würzburg.