Ein anrührendes Bild gibt in diesen Tagen wieder die einsame Pommerngans im Mühlgraben ab. Gerd – nennen wir den mutmaßlichen Ganter mal so – liebt wie alle Gänse die Geselligkeit; er hat in Ermangelung einer Partnerin und eigenen Nachwuchses wie alle Jahre einige Küken der zahlreichen verwilderten Enten in Saale und Mühlgraben adoptiert. Bereitwillig purzeln die Kleinen dem großen Onkel hinterher. Die Gans folgt ihrem Instinkt, und der befiehlt im Frühjahr eben elterliche Fürsorge.
Eine allzu arge Vermenschlichung von Tieren mag fast so schlimm sein wie eine üble Behandlung der Mitgeschöpfe in Massenhaltung. Aber der Anblick der Gans, die mit der Duldung der Enteneltern viele Stunden am Tag zu Wasser und an Land eine Kükenschar beaufsichtigt, sie zusammenhält und ihr Schwimmunterricht gibt, lässt kaum einen Passanten kalt. Es handelt sich jedoch lediglich um natürliches Verhalten im unnatürlichen (weil durch Fütterung überbevölkerten) Wasservogel-Gefüge des Mühlgrabens.
Für die Abläufe der Natur fehlt Menschen manchmal das Verständnis. Das zeigt ein Vorfall vor knapp zwei Wochen: Passanten auf der Lindenwiese und auf der Saalebrücke waren auf den putzigen Gans-Küken-Kindergarten aufmerksam geworden. Plötzlich verwandelte sich die allgemeine Belustigung in Bestürzung: Denn als die Gans beim Schwimmunterricht einem der Küken mit dem Schnabel wieder ans Ufer helfen wollte, verendete der kleine gelbe Federnball.
Möglicherweise war das Küken bereits krank gewesen, möglicherweise hatte Gerd zu fest mit dem Schnabel gestupst. Ein paar Mädchen missverstanden, wie auch andere Beobachter, die Situation und wollten nun die verbliebenen Küken vor der Gans in Sicherheit bringen; eine Frau kreischte von der Brücke aus den Mädchen zu, sie sollten „sofort den Tierarzt in Lohr“ rufen (ohne zu erklären, warum sie das nicht selbst übernehmen wollte); jemand schrie „die dumme Gans!“; ein anderer gab den Ratschlag, das Küken zu beerdigen.
Das Schicksal des einsamen mutmaßlichen Pommernganters im Gemündener Mühlgraben hatte die Main-Post 2007 unter der Überschrift „Der Norweger ist ein Wernfelder“ beschrieben. Der damalige Bericht über die heute acht Jahre alte Gans:
„Schaut mal in die Zeitung“, rief eine Freundin am 16. Februar 2007 bei Familie Schmid in Wernfeld an. Darin war „Die Graugans im Entenreich“ abgebildet. Das also war aus Schmids verloren gegangenem Küken geworden: „ein neues Wahrzeichen von Gemünden“. (...) Die tierliebe Familie Schmid hatte sich 2005 fünf weiße und graue Pommerngänse zugelegt, eine alte und robuste Hausgans-Rasse mit „gutem Brut- und Aufzuchtverhalten“, wie es im Lexikon heißt. Keine Ahnung von der Haltung zu haben, hielt die Schmids nicht ab. „Wir holten uns Informationen aus Büchern und lernten durch tägliche Beobachtung.“ Die Gänse kommen gut allein zurecht; die Grünfresser erhalten nur im Winter ab und an grob geschrotetes Getreide dazu.
Die zwei Ganter unter den fünf Gänsen vertrugen sich allerdings nicht, weshalb Familie Schmid zwei Tiere wieder abgab. Übrig blieben Gerda, Lieselotte und Peter. Aus den ersten beiden Gelegen schlüpften 25 Küken – und hielten mit ihrem Entdeckerdrang die drei Altvögel auf Trab. Erst ließen die Schmids die Küken nur ihn großen Wannen im Hof planschen, dann ging's hinaus in den weitläufigen Garten und auf die Wern.
„Das waren so viele Küken, da haben die Alttiere die Übersicht verloren“, erzählt Cornelia Schmid. Im Nu seien zehn der Jungen schon die Wern hinunter davon geschwommen. Die Schmids am Ufer hinterher – „was sind wir gewetzt und gerannt“. Schließlich fehlten drei Küken. Irgendwann im Sommer, nach etwa zehn Wochen, hörte Cornelia Schmid von einer Bekannten aus der Fischerzunft, dass einer der drei Jungvögel alle Fährnisse wie Füchse, Marder, Hunde, Katzen und Ratten überlebt habe und am Mainufer gesichtet worden sei. Noch einmal suchte die Familie nach ihrem tapferen verlorenen Gänsesohn – vergeblich. „Wir haben uns damit abgefunden: Der ist ausgewildert.“
„Da würden wir wohl Ärger mit der Stadt bekommen. Schließlich sind Gänse nicht eben leise.“
Cornelia Schmid erklärt, weshalb sie dem Ganter keine Gefährtin hinzugesellen
Im Herbst 2005 hörten die Schmids dann, dass der nun fast ausgewachsene Ganter am Mühlgraben in Gemünden heimisch geworden sei. Auf den Zeitungsbericht vom 16. Februar 2007 über die vermeintliche Graugans hin „haben wir uns ihn angeschaut – er sieht aus wie Gerda“. Dass er ein Ganter ist, lässt die Art seiner durchdringenden Rufe vermuten.
Im ersten Zeitungsbericht war spekuliert worden, ob die vermeintliche Graugans wegen einer Verletzung ihren Langstreckenflug von tausenden Kilometern in Gemünden unterbrochen habe und ob sie möglicherweise nicht mehr fliegen könne. Das korrigierte eine Gemündener Leserin gleich: „Die Gans kann fliegen, und wie die fliegen kann!“ Bei Fütterungen brause sie im Tiefflug über die Köpfe der Menschen hin.
Die Flugfähigkeit der Pommerngänse bestätigt Cornelia Schmid. Sie setzen über Zäune hinweg, nur große ausdauernde Flieger wie ihre Ahnen, die Graugänse, seien sie nicht. Einen Anspruch auf den Mühlgraben-Ganter erhebt die Wernfelder Familie übrigens nicht. Er sei nun ein Wildtier und würde sich nicht mehr einfügen. Eine Familienzusammenführung wird es also nicht geben. Dem einsamen Ganter eine Gefährtin hinzugesellen wollen die Schmids auch nicht. „Da würden wir wohl Ärger mit der Stadt bekommen. Schließlich sind Gänse nicht eben leise.“
Damit erklärt sich das Schicksal des Pommernganters am Mühlgraben. Mittlerweile stellt er eine Attraktion auf der Lindenwiese dar, auch wenn seine Herkunft nicht so spektakulär ist, wie gedacht. Viele Spaziergänger haben ihm schon Namen gegeben, verschiedene. Am treffendsten wäre vielleicht Gerd in Anlehnung an Gerda – seine Mutter.