Der Mittelsinner Dr. Stephan Schaal ist weltweit ein gefragter Interviewpartner für Fernsehdokumentationen über die Urzeit. Der Grund: Der 58-Jährige ist Herr über einen besonderen Schatz. Er ist als Leiter der Abteilung für Paläoanthropologie und Messelforschung am Frankfurter Senckenbergmuseum, Chef der Grube Messel bei Darmstadt, eines UNESCO-Weltnaturerbes. Die einzigartige Fossillagerstätte ist berühmt für ihre Urpferdchen, gibt jedes Jahr neue, teils spektakuläre Funde frei – und wäre beinahe mit Müll aufgefüllt worden.
Vor zwei Jahren sorgte der gebürtige Berliner Schaal mit einem Aufsatz über zwei in Messel gefundene Schildkröten für Aufsehen. Er konnte nachweisen, dass die Tiere beim Liebesglück ums Leben kamen. „Schildkröten können sehr lange tauchen“, sagt Schaal, aber der See, der die Grube einst war, war in der Tiefe giftig. Die Schildkröten müssen sich, als sie beim Paarungsakt unter Wasser immer tiefer sanken, vergiftet haben, wohl über die Haut. Die sauerstofflosen Tiefenwässer waren perfekt zur Konservierung. „Schildkröten bezahlten Sex mit dem Leben“ und ähnlich lauteten die Schlagzeilen damals.
Seit 1984 ist Schaal am Senckenbergmuseum und zuständig für die Grube Messel. „Damals war der Kampf noch in vollem Gange“, erzählt er, der damals der jüngste Wissenschaftler und Abteilungsleiter dort war. Alle Parteien seien dafür gewesen, den ehemaligen Ölschiefer-Tagebau mit Müll aufzufüllen, sagt Schaal, noch immer ungläubig. Alle, außer den Grünen. Nach jahrelangem Kampf und Prozessieren ging die Grube schließlich 1991 in den Besitz des Landes Hessen über. Danach rührte er kräftig die Werbetrommel, dass die Grube UNESCO-Welterbe wird – mit Erfolg, 1995 wurde Messel aufgenommen. 2005 benannte Schaal zu Ehren Joschka Fischers, der sich für den Erhalt der Grube eingesetzt hatte, einen urzeitlichen Python nach Fischer: Palaeopy-thon fischeri.
Anfangs war Schaal selbst Grabungsleiter, jetzt leitet er eine Abteilung mit über 20 Biologen und Paläontologen und verbringt nur noch etwa zehn Prozent seiner Arbeitszeit mit wissenschaftlicher Forschung. Er hat Bücher über Messel geschrieben und beispielsweise eine Briefmarke mit einem Messel-Krokodil angestoßen. Höchstens einmal die Woche kommt er heute noch nach Messel.
Dafür kommt er sonst weit herum, hält weltweit Vorträge und nimmt an Konferenzen teil. Ab und zu beteiligt er sich auch an Grabungen im Ausland. In Messel hat Schaal selbst einmal ein kleines Urpferdchen gefunden. Jetzt graben jedes Jahr Studenten unter Aufsicht etwa einen Meter in die Tiefe auf einer Fläche von zehn mal zehn Metern. Jeden Tag werde etwas gefunden. Schaal: „Da brummt's richtig im Sommer.“ Die Funde müssen feucht gehalten und mit Kunstharz konserviert werden, weil der Ölschiefer sonst austrocknet und zerbröselt.
Was macht Messel so einzigartig? „Messel sticht absolut hervor“, sagt der Wissenschaftler. Die Lagerstätte bilde den Moment nach dem Aussterben der Dinosaurier ab, „als die Säugetiere sich weltweit ausgebreitet haben“, erklärt Schaal. Zudem seien die Erhaltungsbedingungen grandios: vollständige Skelette, Haare, Federn, Mageninhalt, Kot, bei Insekten sogar Farben, Urpferdstuten mit Föten. So lasse sich etwa klären, ob Ursäugetiere hüpften oder liefen, und ob Urfledermäuse sich schon mit Echo orientierten – Antwort: Sie taten es. Und es lasse sich die Evolution, die Weiterentwicklung, der Arten erkennen. Schaals Erkenntnis: „Alle haben sich weiterentwickelt.“ Sämtliche gefundenen Tiere, darunter alle 40 Vogelarten, seien ausgestorben.
Im Dezember werden es 20 Jahre, dass der Forscher mit seiner Familie nach Mittelsinn zog. Mittelsinn war Zufall. Als sie gerade überlegten, von Frankfurt aufs Land zu ziehen, auch der Kinder wegen, hätten sie ein Grundstück in Mittelsinn angeboten bekommen – und zugeschlagen. Der 58-Jährige schätzt den Sinngrund und den Spessart, hält sich gerne in der Natur auf, oft mit seiner Kamera. Er sitzt zwar jeden Tag drei Stunden in der Bahn, aber für ihn sei das keine verlorene Zeit. Während der Fahrt bereite er sich vor.
In der Grube Messel gibt es heute ein Besucherzentrum und eine Plattform, um in die Grube schauen zu können. Heute sind Grabungen von Privatleuten nicht mehr möglich, aber man kann den Wissenschaftlern und Studenten im Sommer bei einer speziellen Grabungsführung über die Schulter schauen und sich mit ihnen unterhalten. Da aber nur werktags gegraben wird, rät Schaal, unter der Woche nach Messel zu kommen. Bald soll ein neu entdecktes Nagetier in der Größe eines Eichhörnchens zum ersten Mal präsentiert werden.
Die Grube Messel
Die an der Bahnstrecke Darmstadt–Aschaffenburg gelegene Grube Messel war vor Äonen, genauer gesagt im Zeitalter des Eozäns vor 47 Millionen Jahren, ein fast kreisrunder, tropischer See. Entstanden ist er durch eine Eruption. „Maarsee“ ist die wissenschaftliche Bezeichnung dafür. Anfangs bestand ein großer Ringwall rund um See, der über die Jahrtausende nach und nach erodierte. Damals, so schildert Dr. Stephan Schaal, herrschte ein warmes Klima, Europa war ein Inselgebilde und Messel lag auf der Höhe Siziliens. „Wir triften immer noch ein bisschen nach Norden“, sagt der studierte Geologe und Paläontologe. Ein Paläontologe befasst sich mit Lebewesen in der Urzeit.
Knapp eine Million Jahre bestand der See, der einen Durchmesser von rund einem Kilometer hatte und eine fast unglaubliche Tiefe von bis zu 300 Metern. Auch Tiere, die rund um den See lebten, fielen hinein und fanden darin den Tod – und blieben durch die perfekten Konservierungsbedingungen bis heute erhalten. Der See füllte sich im Laufe seines Bestehens durch mit Algen und Tonpartikel, es bildete sich Ölschiefer. Von 1888 bis 1962 wurde dieser abgebaut. Das riesige Tagebauloch, so sah die Politik ursprünglich vor, sollte mit Müll verfüllt werden. Die Grube wurde zu einer Deponie ausgebaut. Doch wegen der bedeutenden Fossilfunde erhoben sich Proteste.