Den 78. Jahrestag des nationalsozialistischen Novemberpogroms 1938 gegen die jüdische Minderheit nahmen die Volkshochschule Marktheidenfeld und der Förderkreis Synagoge Urspringen am Mittwochabend als Anlass zu einem Vortrag über ein einmaliges Dokument jüdischer Vergangenheit. vhs-Geschäftsführerin Monika Oetzel konnte mit Leonhard Scherg einen ausgewiesenen Experten zur regionalen Geschichte der Juden begrüßen. Er stellte das vor einigen Jahren aufgetauchte Fotobüchlein von Serry Adler aus Urspringen vor.
Im Juni 1942 deportiert
Das Mädchen wurde am 28. November 1925 geboren. Sie wurde im April 1942 zusammen mit ihren Eltern, dem Kaufmann Friedrich Adler und seiner Frau Ida, deportiert. Das einstige Wohnhaus der Familie steht noch in Urspringens Ortsmitte. Bilder von den Eltern fehlen jedoch unter den Fotografien.
Dafür konnten andere Verwandte auf den Aufnahmen ermittelt werden. Zwei Bilder zeigen Serry Adler im Garten von David und Dina Adler in Urspringen. Darauf ist sie mit ihrer Cousine Anni und ihrem Cousin Leo, einem Sohn des Viehhändlers Ludwig Adler und seiner Frau Mathilde, abgelichtet. Sie alle wurden im April 1942 Opfer der Deportation von 42 jüdischen Bürgern Urspringens in das Vernichtungslager Sobibor. Mit Hilfe von Dokumenten und des Zeitzeugen Walter Otter aus Urspringen konnte Scherg die Wohnhäuser der drei Familien ausfindig machen.
Mehrere Bilder aus Urspringen
Zwei Bilder zeigen Serrys Cousin Justin Adler, einen Bruder von Leo Adler. Er war im August 1939 nach Schneebinchen in der Niederlausitz gezogen, um sich dort in einer landwirtschaftlichen Ausbildungsstätte auf die Emigration nach Palästina vorzubereiten. Seine Auswanderung gelang. In Palästina schloss er sich der Britischen Armee an. 1946 besuchte er Urspringen, wo er Walter Otter und dessen Schwester traf. 1948 ist er als letzter Angehöriger seiner Familie im israelischen Unabhängigkeitskrieg gefallen.
Andere Bilder zeigen Serry Adler in Würzburg, wo sie ab Oktober 1939 zur Schule ging. Es gibt Bilder zusammen mit jungen Leuten bei Ausflügen ins Naherholungsgebiet Guttenberger Forst oder im Garten des jüdischen Krankenhauses in der Würzburger Dürerstraße. Ein Porträt zeigt die aus Heidingsfeld stammende Selma Flörsheimer. In ihrer Wohnung in der Würzburger Friedenstraße hatte Serry Adler Unterkunft gefunden. Die Witwe hatte dem Kind das kleine Album geschenkt.
Volksschule in Würzburg besucht
Eine weitere der um 1939/40 entstandenen Fotografien zeigt den elegant gekleideten Lehrer Georg Friess und seine Frau Käthe bei einem Spaziergang im Steinbachtal. Der Lehrer an der jüdischen Volksschule in Würzburg wurde im November 1941 mit seiner Frau nach Riga deportiert. Möglicherweise begleitete er freiwillig einige seiner Schüler. Georg Fries starb 1945, wenige Tage vor der Befreiung, im Konzentrationslager Bergen-Belsen. Seine Frau überlebte und gelangte mit einem Rettungstransport nach Schweden.
Zwei weitere Bilder weisen auf die badische Heimat der Mutter von Serry Adler hin. Eine Aufnahme zeigt das Mädchen im Garten ihrer Großeltern Heinrich und Eva Israel in Strümpfelbrunn, eine andere entstand in Berlichingen, woher ihre Großmutter stammte.
Überlebende in den USA
Zur mütterlichen Verwandtschaft zählte auch Cousine Lore Bauer, von der sich ein entzückendes Portraitfoto im Album befindet. Die am 22. Oktober 1933 geborene Lore wurde schon 1940 mit der Mutter in das Lager Gurs in Frankreich deportiert. Von dort gelangte sie noch im Rahmen der Aktion OTC – One Thousand Children – in die USA. Mutter Rosa Bauer wurde in Auschwitz, ihr getrennt lebender Vater Alfred Bauer in Treblinka ermordet.
Lore Bauer verbrachte ihre weitere Kindheit und Jugend in Heimen. Sie heiratete, gründete eine Familie und lebt noch heute in Illinois. Leonhard Scherg bemühte sich, Kontakt mit ihr aufzunehmen. Schließlich antwortete eine Tochter, die als Ärztin bei der US-Army tätig ist. Lore Bauer hat ihre unglückliche Vergangenheit gegenüber ihrer Familie immer verschwiegen.
Das Bild aus Serry Adlers Album ist das einzige Kinderbild, das die Familie jemals in Händen hielt. „Das ist etwas, wie ein Gruß aus dem Jenseits“ meinte der Historiker zu dieser nahezu unglaublichen Fügung nach so vielen Jahren. Lore Bauers Tochter plant nun in Kürze Deutschland zu besuchen, um die ursprünglichen Heimatorte ihrer Familie aufzusuchen.
Ein spektakulärer Fund im Straßengraben Im Juni 1942 fand der neunjährige Stanislaw Zdun in einem Straßengraben nahe seiner polnischen Heimatstadt Chelm ein kleines Album mit 14 Fotografien. Über diese Straße wurden aus Deutschland deportierte Juden ins Vernichtungslager Sobibor getrieben. Zdun verwahrte das Fotoalbum auf. Nach seinem Tod 2012 übergaben seine Erben das historische Zeugnis an das Nationalmuseum in Majdanek. Bei dessen Recherchen kam es 2013 zum Kontakt mit dem Förderkreis Synagoge Urspringen und Dr. Leonhard Scherg. Hier gelang es mit Unterstützung weiterer Mitglieder das Album eindeutig dem Mädchen Serry Adler aus Urspringen zuzuordnen, die es bei der Deportation am 23. April 1942 aus ihrem Heimatort wohl mitgenommen hatte. Durch die knappen Beschriftungen auf einigen Aufnahmen konnten weitere abgelichtete Personen, unter anderem mit Unterstützung von Dr. Rotraud Ries vom Johanna-Stahl-Zentrum in Würzburg, identifiziert werden. Weitere Forschungen konnten einige Lebensläufe klären. In einem glücklichen Ausnahmefall gelang sogar ein persönlicher Kontakt. Das kleine Fotoalbum wurde so zu einer einmaligen historischen Quelle mit hoher Aussagekraft zur geplanten Vernichtung der Juden während der NS-Zeit. Unter anderem ist es ein Beleg dafür, dass die größte Deportation unterfränkischer Juden Ende April 1942 einen anderen Verlauf nahm, als lange angenommen. So verzeichnet die Gedenktafel an der Türe der Synagoge in Urspringen den Weg von 42 deportierten jüdischen Bürgern nach ihrer Ankunft am Bahnhof der polnischen Stadt Krasnystaw über das Ghetto Izbica in das deutsche Vernichtungslager von Belzec. Doch nun steht fest, dass ihr Weg im Vernichtungslager von Sobibor endete.