Sie alle sind zu sehen: ein Müllfahrer, ein Handwerker, ein Polizist, ein Arzt, ein Landwirt, eine Krankenschwester bzw. Altenpflegerin, ein Paketbote, ein Feuerwehrmann und eine Supermarktverkäuferin. Sie alle halten wie der legendäre Atlas aus der griechischen Mythologie die Weltkugel, die zugleich wie ein Virus ausschaut, in den Angeln. Und unter der Karikatur ist zu lesen: Stützen der Gesellschaft.
Die Corona-Krise bringt gegenwärtig viel durcheinander. Aber merkwürdigerweise wird auch manches klarer und deutlicher herausgearbeitet: zum Beispiel, wer die Stützen unserer Gesellschaft sind. Theoretisch stand die Frage schon immer im Raum, ob es verhältnismäßig ist, dass ein auf der Intensivstation liegender Manager 15 Mal so viel verdient wie die Intensivschwester, die ihn versorgt. Seit Corona ist diese Frage aber nun eine praktische.
Wir hoffen inständig, dass die Pflegerinnen und Pfleger in Krankenhäusern und Altersheimen ihren Job auch weiterhin machen. Wir sehen die Menschen, die in den Supermärkten arbeiten, plötzlich mit ganz anderen Augen. Und wir empfinden Dankbarkeit dafür, dass Menschen Lkw fahren und die Dinge des täglichen Lebens heranschaffen, von denen wir nie gedacht hätten, dass sie knapp werden könnten
Das Zauberwort dieser Tage ist das Wort "systemrelevant", und uns wird drastisch vor Augen geführt, dass die bisher als solche gehandelten Leistungsträger unserer Gesellschaft die Systemrelevanz nicht für sich gepachtet haben. Die Botschaft von Corona ist: alle Menschen sind Leistungsträger und somit systemrelevant, wo auch immer sie in unserer Gesellschaft stehen und dort ihren Job machen.
Das antike Korinth muss das offenbar schon vor 2000 Jahren übersehen haben. Der Apostel Paulus findet nahezu unerhörte Worte: "Das Auge kann nicht sagen zu der Hand: Ich brauche dich nicht; oder wiederum das Haupt zu den Füßen: Ich brauche euch nicht. Vielmehr sind die Glieder des Leibes, die uns schwächer erscheinen, die nötigsten." (1. Kor 12,21f.) Selten benötigt ein Bibelwort keinerlei Erklärung.
Und weiter heißt es – und wer es nicht glaubt, lese selbst nach: „Aber Gott hat den Leib zusammengefügt und dem geringeren Glied höhere Ehre gegeben, auf dass im Leib keine Spaltung sei, sondern die Glieder einträchtig füreinander sorgen.“ (12,24f.) Keine Spaltung und dafür einträchtiges füreinander Sorgen. Das wünsche ich mir auch für die Zeit nach Corona: dass eine in Gewinner und Verlierer gespaltene Gesellschaft keine Option mehr ist und dass Gemeinwohl von niemandem mehr als Gemeinheit missverstanden wird.
Dieser Tage war von einem Milliardär aus der Musik- und Filmbranche zu lesen, der ein Foto von seiner 590-Millionen-Dollar-Yacht im Sonnenuntergang postete und dazu schrieb, dass er irgendwo in der Karibik isoliert sei, um dem Virus zu entgehen, und dass er hoffe, dass alle in Sicherheit seien. Der Beitrag erntete so wütende Kommentare, dass der Account abgeschaltet werden musste.
Seit Corona ist das mit der Systemrelevanz so eine Sache. Und das ist gut so. Denn alle sind Leistungsträger in unserer Gesellschaft, alle werden gebraucht je an ihrem Ort. Ihnen allen gilt es von Herzen Danke zu sagen für ihren Dienst.
Dekan Dr. Matthias Büttner
ev. Kirchengemeinde Bad Neustadt