Zu jeder Welle der Empörung, die irgendwo schwappt, gehört es, dass sie einmal abebbt. Gut eine Woche hielt sich die jüngste Welle im Landkreis Rhön-Grabfeld mit einem durchaus gewaltigen Scheitelpunkt.
30 Minuten zu später Sendezeit im Bayerischen Fernsehen genügten am vorvergangenen Montag, um einen Sturm der Entrüstung loszutreten. Hinzuzurechnen ist noch die Zeit, die Landrat Thomas Habermann im Vorfeld nutzte, um öffentlich vor einem Machwerk zu warnen, das überaus einseitig und fehlergespickt den Landkreis in ein schlechtes Licht rücke. Er meinte die Folge der Reihe „ausgerechnet“ unter dem Titel „Rhön-Grabfeld – Der Ort, wo niemand leben will?“
Solchermaßen von Erwartungsdruck aufgebläht, hatte der Fernsehbeitrag ein sattes Zuschauerecho. Gleich am Dienstag nach der Ausstrahlung hatte sich die Phalanx der Protestierenden formiert: Jörg Geier, Leiter der Stabsstelle Kreisentwicklung am Landratsamt, Landrat Thomas Habermann, der sich aus London zuschalten ließ, dazu eine Reihe der Porträtierten vom Sulzfelder Bürgermeister Jürgen Heusinger über den Schreiner Reinhold Seuffert bis zur Heustreuerin Alicia Menninger, die mit ihrer Kolpingjugend eine Sommerparty organisiert hat: Allesamt waren sie enttäuscht über den Beitrag, der nichts als einen Imageschaden für die Region hinterlassen habe.
Der Landrat ist verärgert
Was war geschehen? Ein Team von BR-Volontären war im Juni für eine Woche in Rhön-Grabfeld unterwegs, um der Frage nachzugehen, ob der Landkreis wirklich ein Ort ist, an dem niemand leben will. Zugrunde lag eine statistische Zahl, wonach Rhön-Grabfeld der Landkreis mit der größten Abwanderungsbewegung innerhalb Bayerns sei.
Die Volontäre, auf der Suche nach echten Menschen hinter trockenem Zahlenwerk, haben Beispiele gefunden für Rhön-Grabfelder, die unter offensichtlich widrigen Umständen das Leben in Rhön-Grabfeld zu meistern versuchen: Eine Frau, die in Mellrichstadt ein Café eröffnet und mit den ersten Hürden zu kämpfen hat. Ein Schreiner, der Insolvenz anmelden musste, weil er gegen den globalen Preiskampf nicht ankommt. Eine junge Studentin aus Heustreu, die mit der Kolpingjugend ein nicht übermäßig erfolgreiches Sommerfestival auf die Beine stellt und schließlich ein Bürgermeister, der mit einem Regionalmarkt die Kaufkraft in der Region halten will.
Sympathische Menschen werden dargestellt, die mit einem gerüttelt Maß an Optimismus in ihrer Heimat etwas auf die Beine stellen wollen. Allein, sie alle umweht die Aura des bevorstehenden Scheiterns in einem doch ziemlich prekären Umfeld. Zumindest hatte wohl diesen Eindruck eine große Zahl von Kritikern wie Wirtschaftsförderer Jörg Geier vom Landratsamt, der den Landkreis im Film „nicht ganzheitlich dargestellt“ sieht.
Eine ganzheitliche Darstellung ist freilich nicht die primäre Aufgabe einer Reportage. Die beansprucht, einen persönlichen Blick zu werfen auf ein Thema. „Menschen auf Augenhöhe begegnen und sie bei ihren Aufgaben begleiten“, so erklärt die BR-Ausbildungsredaktion das „ausgerechnet“-Format.
Dass hier wohlfeile Politikerreden dramaturgisch keinen Platz finden, leuchtet ein. Auf der anderen Seite: Wenn es minutenlang darum geht, ob die Biertischgarnituren für den Regionalmarkt rechtzeitig geliefert werden oder ob sich die Biertische für das Kolping-Sommerfestival auch wirklich füllen, dann kommt man schon ins Zweifeln, ob etwas Typisches für die Region über den Äther gestrahlt wird. Womöglich haben viele Zuschauer unbewusst die merkwürdige Fallhöhe bemerkt: Eine komplexe Statistik über demografische, wirtschaftliche und infrastrukturelle Herausforderungen eines Landkreises lässt sich an den gesendeten Beispielen nur schwer ablesbar machen.
Die Wellen schlagen sofort hoch nach der Ausstrahlung. Landrat Thomas Habermann sendet Vokabeln wie „polemisch und tendenziös“ für die Journalisten-Schreibblöcke und zitiert gleich seinen Parteifreund und Kultusminister Ludwig Spaenle, der in dem Filmbeitrag eine „üble, tendenziöse Reportage“ gesehen habe. Habermanns sozialdemokratischer Landrats-Gegenkandidat vom Frühjahr, Thorsten Raschert, zeigt sich in Facebook hingegen ganz angetan vom BR-Beitrag, der auf tatsächliche Schwierigkeiten im Landkreis hinweise. Das TV-Stück ist zum Politikum geworden.
Vor allem aber regt sich Volkes Stimme. Die „ausgerechnet“-Reportage wird an Stammtischen und in Cafés diskutiert. Am Mittwoch nach Ausstrahlung stellen die Grabfelder Gerald Kneuer aus Gabolshausen und seine Bekannte Christine Heß eine Facebook-Gruppe online. „Wir sind Rhön-Grabfeld und wir leben gerne hier“. 24 Stunden später hat die Gruppe über 3000 Mitglieder. Wobei zu erwähnen ist, dass man nicht aktiv seinen Beitritt erklären muss, sondern von Facebook-Freunden einfach hinzugefügt werden kann. „Wir wissen um die Schwierigkeiten unserer Region, trotzdem ist es absolut lebenswert hier“, erklärt Gerald Kneuer den Beweggrund für die Facebook-Aktion.
In den ersten Tagen wird fleißig hin und her diskutiert über den BR-Beitrag und seinen Einfluss auf das Image des Landkreises im Freistaat und darüber hinaus. Mit der Zeit mischen sich unter die meist negativen Kommentare auch positive Meinungen: „Der Beitrag zeigt auf, weshalb viele aus der Region abwandern, in der ich lebe, obwohl die Zuwanderungsrate zum Freistaat Bayern relativ hoch ist. Es ist keinesfalls ein Angriff auf Menschen, die hier porträtiert werden. Im Gegenteil, es wird gezeigt, dass sie nicht aufgeben, nicht verzagen, auch wenn sie Rückschläge erleiden“, so eine Nutzerin.
Heimatbekenntnis auf Facebook
In der Facebook-Gruppe wird seitdem munter gepostet, wie schön es im Landkreis Rhön-Grabfeld ist, welche Naturschätze die Region zwischen Kreuzberg und Haßbergen zu bieten hat und vor allem, was er wirtschaftlich zu leisten vermag: „Es war ein Unternehmen aus Rhön-Grabfeld, das eine der größten Holz-Fassaden-Konstruktionen für die Zentrale der Lufthansa in Frankfurt hergestellt hat (...) bei der Fußball-Weltmeisterschaft war es ein Unternehmen aus Rhön-Grabfeld, das die meisten Zelte für Journalisten, VIP-Empfänge und Sponsorenbetreuungen aufgestellt hat, beim Porsche-Fahren sollte man ab und zu daran denken, dass ein Rhön-Grabfelder Unternehmen die Schaltungen herstellt und . . .“
Unternehmergeist beweist auch ein Rhön-Grabfelder Textil-Druck-Geschäft. Schnell sind T-Shirts und Autoaufkleber „Ich bin stolz, Rhön-Grabfelder zu sein“ produziert. Eine Gruppe Kinder aus Bad Königshofen tanzt ausgelassen zum nagelneuen „Grabfeld-Lied“, einem Liebesbeweis an die Region der sympathischen Art.
Ein ganz eifriger Gruppen-Aktivist ist auch Eberhard Schellenberger, Leiter des BR-Regionalstudios in Würzburg und seit Jahrzehnten mit der Region vertraut. Mit einer ganzen Reihe von Links auf BR-Archiv-Beiträge aus Rhön-Grabfeld will er das Bild gerade rücken, das vom Münchner Sender derzeit in Rhön-Grabfelder Köpfen etwas schief hängt. „Auch mit vielen großen Live-Ereignissen wie in Fladungen hat der BR bewiesen, dass ihm Rhön-Grabfeld wichtig ist“, so der BR-Mann. „Der Beitrag wollte Licht- und Schattenseiten des Strukturwandels beleuchten“, so Schellenberger, der die Art der Auseinandersetzung in manchen Stellungnahmen kritisiert. Er könnte sich vorstellen, dass das Reportage-Team noch einmal den Kontakt zu Rhön-Grabfeld sucht.
Clemens Finzer, Leiter der BR-Ausbildungsredaktion hat mit dem Echo des „ausgerechnet“-Beitrages in Rhön-Grabfeld keinesfalls gerechnet. „Die Aufregung kann ich aber nicht nachvollziehen. Unsere Kollegen haben sich eine Woche vor Ort ein Bild gemacht und es kommen nur die Aussagen der Menschen dort vor“, so Finzer. Es sei nicht darum gegangen, „Vorzeigeprojekte zu beleuchten“, so der Leiter der Ausbildungsredaktion weiter.
BR kündigt erneute Sendung vor Ort an
Dass manche Kritik unter der Gürtellinie sei, finde er schade. „Was mir aber total viel Freude bereitet, auch wenn das nicht die Absicht der Reportage war, ist dieser gewachsene Gemeinschaftsgeist der Rhön-Grabfelder, wie er auch in der Facebook-Gruppe deutlich wird. Ich habe die Rhön-Grabfeld-Fanseite jeden Tag geöffnet und verfolge mit Interesse, was sich hier alles Interessantes tut“. Vielleicht können sich Finzer und seine Kollegen am 24. September vor Ort in Rhön-Grabfeld ein noch lebendigeres Bild von Unterfrankens Nordrand machen. Dann will das Bayerische Fernsehen eine Folge der Reihe „BR Bürgerforum“ live aus Rhön-Grabfeld senden mit Moderator Tilmann Schöberl. „Wir wollen mit Politikern, Bürgern, aber auch Vertretern der Staatskanzlei Lösungsansätze für einen gelingenden Strukturwandel diskutieren“, so Pressesprecherin Sylvie Stephan. Der Austragungsort ist noch nicht bekannt. Es könnte der Industrie- und Technologiestandort Bad Neustadt sein. Die Kreisstadt selbst fand im Film keine Erwähnung.
Es klingt, als habe die Sendung höchste politische Wellen geschlagen. Landrat Thomas Habermann, ganz frisch als Vertreter des bayerischen Landkreistages im BR-Aufsichtsrat, wird's freuen. Fortsetzung folgt.