Eindringlicher als jede Geschichtsstunde kann der Bericht eines Zeitzeugen bei Zuhörern Aufmerksamkeit erwecken, wenn er mit persönlichen Erlebnissen Vergangenheit lebendig werden lässt und politisches Unrecht verdeutlicht. Das gilt für die Zeit des Nationalsozialismus ebenso wie für die DDR. Wie dort Regimegegner verfolgt und unterdrückt, davon berichtete nun Hartmut Richter vor Schülern der 9. und 10. Klassen des Gymnasiums Bad Königshofen.
Richter, 1948 im brandenburgischen Glindow geboren, erzählt höchst eindrucksvoll von seinem Leben in der DDR. Er schilderte, wie er, der zunächst mit Begeisterung Jungpionier war, sich zunehmend dem System entfremdete und als Jugendlicher begann, Fluchtgedanken zu schmieden. Es war für ihn Unrecht, dass er als „Gruppenratsvorsitzender“, so hießen im DDR Jargon die Klassensprecher, Mitschüler bespitzeln sollte, indem er etwa meldete, wer westliche Fernsehsender schaute. Ebenso empörte es ihn, dass er, der die Musik der Beatles und Beachboys liebte, sich zwangsweise die langen Haare schneiden lassen musste: Der Anblick Langhaariger galt als Zeichen westlicher Dekadenz.
Einzelhaft und Schlafentzug
Zur Einführung zeigte Richter seinen jungen Zuhörern eine Dokumentation über das Staatsgefängnis Berlin -Hohenschönhausen, in dem er selbst nach seiner Verhaftung als Fluchthelfer fünf Jahre lang inhaftiert war. In diesem Film wird schonungslos offenbart, mit welch perfiden Methoden die Staatssicherheit die Insassen quälte. „Psychologische Zersetzungsmaßnahmen“ wurden praktiziert, Einzelhaft in lichtlosen Zellen, Wärmezellen oder Kältezellen, Schlafentzug. So sollten die Häftlinge gefügig gemacht werden.
Zunehmend unzufrieden mit der Gängelung und Überwachung durch die Partei, plante Richter noch als Schüler eine erste Flucht. Mit dem Zug will er im Januar 1966 von der damaligen CSSR nach Österreich: Er wird verhaftet, zu einer Bewährungsstrafe verurteilt und vom Abitur ausgeschlossen. Schon im August wagte er einen zweiten Fluchtversuch: Als versierter Schwimmer will er durch den Teltowkanal den Westen erreichen. Für die ein Kilometer lange Strecke benötigt er vier Stunden, wobei er Spanndrähte vermeidet, mit Stacheldraht bestückte Sperrgitter überwindet und völlig unterkühlt aber unverletzt das westliche Ufer erreicht. „Der 27. August 1966 war für mich wie ein zweiter Geburtstag!“, verrät er den Schülern.
Haft und Bundesverdienstkreuz
Danach erst habe sein Leben wirklich begonnen. Er genießt die Freiheit, reist als Schiffssteward durch die Welt, träumt von einem Leben in Australien und kehrt dann doch nach Deutschland zurück. Als 1972 zwischen der Bundesrepublik und der DDR das Transitabkommen geschlossen wurde, das den reibungslosen Transitverkehr zwischen Westdeutschland und Berlin garantierte, nutzt er die Gelegenheit und verhilft Menschen zur Flucht. „Das Transitabkommen ließ sich der SED Staat gut bezahlen!“, sagt Richter. „3,4 Milliarden Euro haben sie dafür kassiert!“ Aber immerhin gelingt es ihm, insgesamt 33 Menschen, im Kofferraum seines Autos versteckt, zur Flucht zu verhelfen. Als er 1975 seine Schwester herausholen will, wird er festgenommen und zu 15 Jahren Haft verurteilt, von denen er fünf absitzen muss, ehe er als politischer Häftling von der Bundesrepublik freigekauft wird. Seither lebt Richter in Westberlin und hilft mit, die Vergangenheit des SED Staates aufzuarbeiten. Für seine Arbeit als Fluchthelfer wurde er 2012 mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.
Mit großer Aufmerksamkeit lauschten die Gymnasiasten den Ausführungen des Referenten. Für die meisten ist die Zeit der deutsch-deutschen Teilung Vergangenheit, die keinen Bezug zu ihrer Gegenwart hat. Doch, so appelliert Hartmut Richter an seine jungen Zuhörer: „Erkundigt Euch bei Euren Eltern oder Großeltern, lasst Euch die Zeit beschreiben!“ Totalitäre Systeme dürfen weder weichgezeichnet noch schöngeredet werden, sagt er, sie müssen aufgearbeitet werden, um einer Neuauflage vorzubeugen.