„It's astounding. Time is fleeting. Madness takes its toll.“
Sagenhaft, wie die Zeit dahinrast und der Wahnsinn seinen Tribut fordert. Das ruft der transylvanische Dienerklon Riff Raff in die Runde und gibt grünes Licht für den abgefahrensten Song aus Richard O'Briens Musical „The Rocky Horror Show“, das – inszeniert von Lars Wernecke – ein knappes Vierteljahrhundert nach der ersten Landung wieder im Meininger Theater aufschlägt und die Zuschauer aus dem Häuschen bringt.
Der Kritiker blättert erstaunt in seinen Aufzeichnungen aus den Jahren 1991 bis 1993 – das Musical brachte es damals auf 49 Vorstellungen – und könnte heute nahezu die gleichen Worte verwenden. Originalzitat 1991: „Die Rocky Horror Show wird sich zum südthüringisch-nordfränkischen Kulturereignis mausern. Und die Theaterputztruppe wird das Leid mit den Massen an Reis, Klopapier und Toastbrotscheiben mit Gleichmut ertragen.“
Sagenhaft, wie der Wahnsinn auch 24 Jahre später seinen Tribut fordert. Und das, obwohl inzwischen die sexuelle Befreiung der Zivilgesellschaften dank Internet ungeahnte Dimensionen erreicht haben müsste.
Gelüste scheinbar unverändert
Nichts Wesentliches scheint sich an den Gelüsten der Menschheit verändert zu haben – quer durch alle Altersschichten des Publikums. Und auch die vornehmste Aufgabe der Künstler hat sich vermutlich nicht gewandelt: Die Fantasien in kultivierter Manier, stellvertretend für die Zuschauer, auf der Bühne auszuleben. Auf dass das wirkliche Leben an den Ortsrändern nicht das gleiche Schicksal erleidet wie das in der Kleinstadt Denton/New Jersey. Dort landeten in den 1950er-Jahren, nach dem Willen O'Briens, Außerirdische vom Planeten Transsexual in der Galaxie Transylvania um ihre wegen Unfruchtbarkeit aussterbende Spezies zu retten. Sie tarnten ihr Raumschiff als Burg, fingen keusche junge Menschenkinder ein, wie Janet und Brad – heute Julia Steingaß, alternierend mit Meret Engelhardt und Phillip Henry Brehl –, und rockten und rollten sie nach allen Regeln transsexueller Kunst gründlich durch. Himmel und Hölle liegen da nicht weit auseinander. Lustobjekt Rocky, ein künstliches Geschöpf – Hagen Bähr –, könnte ein Lied davon singen und tut es auch.
Hat sich also seit damals tatsächlich sooo wenig verändert? Nicht ganz. Die Kostüme – von Danielle Jost – glitzern noch aufreizender als 1991 und die männlichen Potenzen scheinen auf Wachstumskurs. Christian Rinkes Bühnenbild rahmen multifunktionale Riesenphalli ein wie griechische Säulen einen Tempel. Über dem Raumschiff schwebt zudem ein riesiger lasziv geöffneter Frauenmund. Der exzentrische transylvanische Transvestit Frank F. Furter heißt inzwischen nicht mehr Michael Jeske, sondern Sven Zinkan und sieht auch ganz anders aus als sein Urahn. Lang und dünn, aber mit einer mikroportverstärkten Rockröhre, die ihresgleichen sucht. Riff Raff Renatus Scheibe wuselt so überzeugend durch die Szenerie, als habe er wieder einmal seine Bestimmung gefunden. Sein Geschwisterklon Magenta Jannike Schubert hat sich da schon attraktiver herausgeputzt, ebenso Mara Amrita als Columbia. Björn Boresch schließlich mimt die Extreme, den Rocker Eddie mit der Harley und den Ufoforscher Dr. Scott im Rollstuhl.
Erzähler im Glaskabuff
Der Erzähler – Reinhard Bock –, steht dem Kritiker ideell am nächsten. Er sitzt wie eine Concierge rauchend in einem Glaskabuff und begibt sich gelegentlich mal nach draußen, um seine Kommentare abzusondern. Hinter den Frauenlippen sitzen fünf riesenbeschnabelte grüne Männchen (während die grünen Backgroundsängerinnen stehen müssen). „Rudi and the Martians“ legen sich unter Leitung von Rudolf Hild zweieinhalb Stunden lang musikalisch höllisch ins Zeug, auf dass nicht nur die Strapse der lasziven Lustwesen von der Eisenacher Ballettcompagnie hüpfen – Choreografie: Julia Grunwald und Andris Plucis –, sondern die Körper ins Schwingen, Rocken und Rollen geraten.
Da bleibt kein Zuschauerhaupt trocken, vorausgesetzt, alle haben vorab ihre Spritzpistolen mit Wasser gefüllt. Nach Ende der mühsam aufrecht erhaltenen Premierensittsamkeit ist ein sprunghafter Anstieg von Strapsträgern im Publikum zu erwarten. Es wird also heiß und nass werden bei den nächsten zwanzig, wie man hört: so gut wie ausverkauften Vorstellungen. Die Theaterputztruppe kann schon mal Reinigungsübungen mit Extrareis und Extratoast veranstalten.
Sagenhaft, wie die Zeit dahinrast und der Wahnsinn immer noch seinen Tribut fordert. Selbst die Theaterkantine war bei der Premiere nicht sicher. Dem Vernehmen nach sollen sich die Horrorveteranen von 1991 unters Volk gemischt haben.
Nächste Vorstellungen: 2., 4., 8., 23. April, jeweils 19.30 Uhr, 19. April, 15 Uhr. Karten: Tel. (0 36 93) 45 12 22 oder 45 11 37 und www.das-meininger-theater.de