Man wünscht inniglich, dass Olga, Mascha und Irina (Katharina Haindl, Katherina Wolter und Cathleen Baumann) der Sprung aus der Provinzödnis ins lebenspralle Moskau ihrer Sehnsüchte gelänge, wenigstens dieses eine Mal in Meiningen. Wenn es ganz schlimm wird mit der Langeweile, dann versuchen die drei Schwestern nämlich mit aller Gewalt auf einem Trampolin abzuheben in die Sphären der Sehnsucht. Oder man übt, wie Sternenjäger Tusenbach (Simon Brusis), am Trampolin seine Kosmonautenkarriere.
Was man auf der Bühne in der zweieinhalbstündigen Inszenierung von Jan Jochymski ("Don Carlos") sieht, hat wenig zu tun mit dem Ausloten der Realitäten des Originals. Man pflegt Aktivismus und Lebenslügen wie bei Tschechow. Aber leibhaftige Menschen in leibhaftigen Umständen sind nirgendwo zu sehen, allenfalls fragmentarisch. Gut, dass es die alte Mimin Helga Kapelle-Weiß gibt, die erstmals seit Jahren wieder auf der Bühne steht. Sie scheint in ihrer Rolle als Kindermädchen Anfissa - mehr beobachtend als redend - der einzig wahrhaft authentische Charakter unter einer Reihe synthetischer Figuren.
Ein Trampolin in einem Tschechow-Stück als Metapher für die Beschränktheit des menschlichen Weltensprungs? Da beschleicht einen doch das Gefühl, hier versuche ein Regisseur wieder einmal, einen modernen Klassiker durch die eigene Genialität zu toppen und den berühmten Bezug zur Gegenwart herzustellen, hoch symbolisch versteht sich. So wird aus der russischen Provinzstadt um 1900 eine russische Provinzstadt heute; und um noch eins draufzusetzen: Wir befinden uns im Raumfahrtzentrum Kaluga (der Ort war zu DDR-Zeiten Partnerstadt des Bezirks Suhl) und die Menschen pflegen - wie naheliegend! - ihre Weltsprungfantasien in einer Raumfahrthalle mit Wohnbereich, Trampolin und historisch-realistischer Agitpropwand (Bühne: Jan Freese, Kostüme: Katherina Kopp).
Wie überaus originell und wie überaus überflüssig. Tschechow so zu inszenieren zeugt eher vom Selbstverwirklichungsgebaren des Regisseurs als von Achtung vor den Menschen in dieser Geschichte. Ganz nebenbei wird dem Publikum zudem unterstellt, es sei nicht in der Lage, die Bezüge eines "Klassikers" zur Gegenwart selbst herzustellen. Jochymski zerlegt nicht nur die Szenerie, in und aus der Tschechows Menschen lebendig werden, er schrumpft die Persönlichkeiten zu kreischenden, streitenden, murrenden, schweigenden, hampelnden, hüpfenden, Kommentare absondernden Wesen, die mehr Typenkarikaturen ähneln als tragikomischen Individuen. Welche Verantwortung an dieser Entpersönlichung der Handelnden der Regisseur trägt und welche Schauspieler, die sich nicht in ihre Rollen einfühlen, ist nicht zu klären. Die Handlung jedenfalls wirkt konstruiert, das Miteinanderreden genauso wie das Aneinandervorbeigucken, das bedeutungsvolle Herumstehen genauso wie das Warten auf die nächste künstliche Erregung. Ob das Absicht der Regie ist oder mangelnde Beherrschung des Handwerks, kann nicht entschieden werden.
Man fragt sich, ob das ästhetische Prinzip, das hinter einer solchen Interpretation steckt, tatsächlich so fundiert ist, wie es die hehren Ansprüche verkünden. Doch die Frage müssen wir nicht klären, genauso wenig wie man gezwungen ist, ein sterbenslangweiliges Buch zu Ende zu lesen. So wird der Kritiker nie erfahren, was den drei Schwestern in Meiningen letztendlich widerfuhr, weil er in der Pause aus dem Theater Richtung Sehnsuchtsort flüchtete und sich entschied, Tschechow lieber noch einmal im Original zu lesen.
Weitere Vorstellungen:
1. und 23. April, jeweils 1930 Uhr
im Großen Haus.
Tel. (0 36 93) 45 12 22 oder- 45 11 37