Alles wächst hier der Sonne entgegen: die Gräser, die Farne, die versprenkelten Blumen am Wegesrand, in deren Blütenkelchen sich die Insekten tummeln. Die großen Buchen recken ihre Stämme in den Himmel, ihr Blattwerk bildet einen leuchtend grünen Baldachin. Hier liegt das kleine Reh, zusammengekauert, den Kopf seitlich an die Flanke gelegt, wie ein Embryo im Mutterleib, bereit zu sterben.
Das Gezirpe drum herum fährt fort, das Gezwitscher der Vögel in den Baumkronen lässt nicht nach. „Gelobt seist Du, mein Herr, für unseren Bruder, den leiblichen Tod; kein lebender Mensch kann ihm entrinnen. Wehe jenen, die in tödlicher Sünde sterben. Selig, die er finden wird in Deinem heiligsten Willen, denn der zweite Tod wird ihnen kein Leid antun.“
Unter den Wanderschuhen rollen die Kieselsteine. Das Reh wird von allen Seiten betrachtet. Noch einmal geht es hinüber zu der weißen Tafel mit der Passage aus dem Sonnengesang des Franz von Assisi. Das Reh, eine Arbeit von Christiane Weiel, Schülerin der Holzbildhauerschule Bischofsheim, zieht uns immer wieder in seinen Bann, so oft wir den Franziskusweg an der Thüringer Hütte in der Rhön auch gehen.
Es ist, in der Mitte der etwa fünf Kilometer langen Strecke, so etwas wie die Klimax dieses Besinnungsweges. Im Kreislauf des Franziskus-Rundwegs muss vom Kreislauf des Lebens die Rede sein. Und von der ganz spezifischen Hoffnung des Christlichen.

Rechts und links des Weges ist alles wie überwuchert. Die Luft wird frischer, die Ohren vernehmen plötzlich ein Plätschern, mit sattgrüner Wucht kommt das Leben zurück. Wir sind an der Station „Frieden“ angekommen. Eine Holzbrücke führt über den kleinen Waldbach.
Das Brückengeländer wird von zwei ausgestreckten Armen aus Holzbrettern gebildet, die in der Mitte einander die Hände reichen. „Gelobt seist Du, mein Herr, für jene, die verzeihen um Deiner Liebe willen, und Krankheit ertragen und Not. Selig, die ausharren in Frieden, denn Du, Höchster, wirst sie einst krönen.“ Der Weg durch das grüne Blätterwerk wird in der Mitte unseres Blickfeldes immer kleiner und endet schließlich im gleißenden Licht. Metaphernsatt laufen wir wieder weiter.

17 Stationen über das Leben und Sterben, das Helfen und Trösten, über die Elemente und den Kosmos enthält der Franziskusweg, der 2007 eingeweiht wurde. Zu den zehn Kunststationen, die die zehn Strophen des Sonnengesangs bebildern, kommen noch einmal sieben Lesestationen, die das Thema „Weg“ zum Thema Lebensweg erweitern und somit Verknüpfungspunkte zu den Franziskus-Texten bilden. Ein ordentliches Stück geht der Weg bergauf. Im Schweiße unseres Angesichts schreiten wir zur beglückendsten Station: „Alles, was atmet, lobe den Herrn“ von Anna Kuhn. Die Skulptur steht auf freiem Feld, der Blick geht durch ein Fenster von in den Himmel geworfenen Vögeln hinunter ins Tal und hinüber bis in die Thüringischen Berge. „Alles, was atmet, lobe den Herrn! Lobet und preiset den Herrn und dankt und dient ihm mit großer Demut.“

Der schweifende Blick über eine offene Landschaft erregt ein großes Glücksgefühl. Vielleicht, weil der Mensch die Jagdgründe aus der Frühzeit seiner Geschichte überblicken kann. Dieses Landschaftsbild ist im menschlichen Gedächtnis tief eingeprägt. Mit jedem Atemzug hier stellen sich neue Fragen, mit jeder Zeile aus dem Sonnengesang wird eine Antwort gegeben.
Wir könnten am Ende des Franziskuswegs die Kapelle aufsuchen. Wir können unseren Leib stärken mit einer legendären Windbeutel-Portion an der Thüringer Hütte oder unser Mütchen kühlen am etwas oberhalb gelegenen Nixenteich. Das ist ein märchenhafter Wasserfall in einem Waldstück am sogenannten Oberelsbacher Graben. Er ist nur über einen nicht ausgeschilderten, vor allem aber bei nasser Witterung nicht ungefährlichen Trampelpfad zu erreichen. Ein Insidertipp, der vor allem von Fotografen aufgesucht wird.
Und noch so ein wundersamer, geheimnisvoller Ort in der Rhön.
Der Franziskusweg
Unterhalb des Jugendhauses/Schullandheims Thüringer Hütte beginnt der Rundweg von etwa fünf Kilometern Länge. Die reine Gehzeit beträgt etwa eineinhalb Stunden. Wer sich für die 17 Stationen meditative Zeit nimmt, sollte zwei bis drei Stunden Zeit für den Rundweg einplanen. Mit einem geländegängigen Buggy kann der Weg komplett mit der Familie gegangen werden. Mit Rollstuhl und einem normalen Kinderwagen ist bei der Station 8 (Schwester Sonne) Schluss.
Weitere Infos: www.franziskusweg.de