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MELLRICHSTADT: „Ich war ein Werkzeug der Geschichte“

MELLRICHSTADT

„Ich war ein Werkzeug der Geschichte“

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    Vehementer Verfechter des moralischen Individuums gegen die Vergötterung einer Partei: Günter Schabowski.
    Vehementer Verfechter des moralischen Individuums gegen die Vergötterung einer Partei: Günter Schabowski. Foto: FOTo gerhard fischer

    Die Weltgeschichte pickt sich gelegentlich unscheinbare Menschen heraus, an denen sie ihr unaufhaltsames Werk vollzieht. An jenem 9. November 1989 war ein Nachrichten-Korrespondent der italienischen ANSA der Auserwählte. Wenn der Mann bei jener denkwürdigen Pressekonferenz mit Günter Schabowski nicht das Thema Reisegesetz aufs Tapet gebracht hätte, wer weiß, wann die Mauer gefallen wäre.

    Aber der ANSA-Korrespondent fragte nach der Reiseregelung. Und der unerfahrene Schabowski, etwas überfordert im Halten einer internationalen Pressekonferenz, erinnerte sich plötzlich wieder an das Schreiben aus dem ZK-Büro, das er am Ende der Konferenz mitteilen wollte, aber fast vergessen hatte.

    Trumpfkarte war Totenschein

    Er wühlte es aus seinen Unterlagen hervor und verkündete die „sofort, unverzüglich“ geltende Ausreiseerlaubnis für DDR-Bürger. Was als Trumpf-Karte einer reformfähigen SED-Regierung gedacht war, wurde zum Totenschein einer dem Untergang geweihten Diktatur. Die übersehenen Durchführungsbestimmungen, denen zufolge in einem Zeitraum von vier Wochen die neue Reisegesetzgebung in der DDR in Kraft treten sollte, waren an diesem 9. November Makulatur.

    Eine überraschte Weltöffentlichkeit wusste davon eine Stunde später im australischen Canberra, aber nicht die Grenzsoldaten an der Bornholmer Straße in Berlin. Günter Schabowski, dem die ganzen Pannen und Missverständnisse im ZK der SED der letzten Monate „langsam zum Halse raushängen“, bleibt nichts anderes übrig, als von seiner Wandlitzer Villa zurück in die Hauptstadt zu fahren, um die Sache zu klären. „Es hätte auch in einer Katastrophe enden können. Der Mauerfall bleibt für mich ein Wunder“, sagt Schabowski, und: „Ich war nur ein Werkzeug der Geschichte.“

    Die Geschichte der DDR mag in vielerlei Hinsicht eine tragische gewesen sein. Aber sie entbehrt nicht einer gewissen Komik, wenn Günter Schabowski von ihrem Ende erzählt.

    Die Komik der SED-Diktatur

    Das liegt in der Natur der Sache, es liegt begründet in der großen Fallhöhe zwischen weltgeschichtlichen Umwälzungen und den Zipperlein einer überalterten SED-Kaste, zwischen dem Absturz eines menschenverachtenden Systems, der bei einer Tisch-Plauderei beschlossen wird.

    Es hatte auch im Abitur-Raum des Mellrichstädter Martin-Pollich-Gymnasiums seinen besonderen Reiz, als Günter Schabowski episodenhaft seine Skizzen vom Untergang der DDR zeichnete. Er stand dabei vor dem verhängten Panoramafenster des Gymnasiums, das den Blick ins Tals des Mahlbaches freigibt. Vor nicht einmal 20 Jahren durchfloss der Bach noch zwei Staaten.

    Übertriebene Symbolik ist aber unter der lustvoll berlinernden Schnoddrigkeit des ehemaligen SED-Bezirkssekretärs fehl am Platz. Es geht in seinem Vortrag um die schiere Banalität des Machtzerfalls eines ausgedienten Regimes. Und man schmunzelt als Zuhörer, wenn Schabowski den sauertöpfischen Willi Stoph schildert, wie er in der ZK-Sitzung vom 17. Oktober 1989 dem versteinerten Erich Honecker ins Wort fällt und dessen Absetzung beantragt.

    „Na bitte, diskutieren wir“, glaubt Honecker noch an seinen schwindenden taktischen Instinkt. Aber Erich Mielkes roter Koffer, der Honeckers Verhör durch die Gestapo in einem wenig strahlenden Licht erscheinen lässt, ist ein schlagendes Argument unter Parteifreunden.

    Letzten Endes stimmten selbst Erich Honecker und Günter Mittag für ihre eigene Abwahl, erzählt Schabowski. „So verbohrt war dieses System, so verfestigt war der Zwang zur Einstimmigkeit, dass sie gegen sich selbst stimmten. Das ist so absurd wie das Verhalten einer Sekte“, rätselt Schabowski über den ehernen Verhaltenskodex eines Regimes, dem er lange selbst ergeben war.

    Die innere Wende

    Aber die Geschichte des Günter Schabowski ist auch die Geschichte einer inneren Wende, einer Abkehr von einer falschen Ideologie. Und Günter Schabowski wird fast zornig und ballt seine Hand zur Faust, wenn jemand Zweifel daran äußert, dass sich ein ehemaliger SED-Bonze vom Saulus der perfekten Diktatur zum Paulus der unvollkommenen Demokratie wandelt.

    Auch die Verantwortlichen der CSU-nahen Hanns-Seidl-Stiftung werden nicht in Schabowskis Innerstes blicken können. Aber dass sich der Berliner Anfang der Neunzigerjahre zu seiner moralischen Schuld bekannt hat und auch eine Gefängnisstrafe absaß, spricht für diese politische Läuterung, die ihm auch heute noch Feindschaft von alten Seilschaften einbringt.

    Für die Schüler des Martin-Pollich-Gymnasiums und für die erwachsenen Zuhörer war es die spannende Reise in eine Geschichte, die so nah und fern zugleich ist.

    Der 78-Jährige hat am Ende seines Vortrages eine Lehre für die jungen Männer und Frauen in der Runde. „Das Wichtigste ist die Entdeckung der Individualität, der eigenen moralischen Verantwortung.“ Deutschland war nicht immer so frei, dies laut zu sagen.

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