„Was gehen mich die Russen an?“ Der Titel des neuen Buchs von Prof. Dr. Karl-Friedrich Lindenau klingt provokant. Der Inhalt zeugt vom Gegenteil. Der ehemalige Herzchirurg hat Erinnerungen und Erlebnisse mit Menschen in und aus Russland zusammengefasst und lässt sie zu einer Liebeserklärung an ein ganzes Volk werden. Lindenau sieht sein Buch als „kritischen Zwischenruf zum Verständnis einer großen Nation und ihrer bewegten Geschichte“.
Russischer Abend im Café Wiener. Nach dem Genuss von grusinischer Schaschlik-Pfanne, der Rote-Beete-Suppe Borschtsch und vielleicht auch schon dem ein oder anderem Gläschen Wodka stellte der Autor sein druckfrisches Buch bei einer Lesung vor. Begleitet wurde er dabei vom Chor „Regenbogen“ des Projekts Integration der Caritas mit russischen, deutschen, weißrussischen und ukrainischen Liedern. Lindenaus „Liebeserklärung an ein unverstandenes Volk“, so der Untertitel, wurde gelesen von Elsbeth und Wilfried Kircher vom Verein Russlandhilfe Rhön, dem der Reinerlös des Abends zugute kam.
Als vierjähriger Bub erlebt Karl-Friedrich das Ende des Zweiten Weltkriegs und den Einmarsch der Russen in seiner Heimatstadt Schönewalde in Brandenburg. Der Vater, ein Schuster, übergibt die Stadt mit der weißen Flagge. Die Mutter Lindenaus und seine älteren Schwestern erleben den Durchzug der kämpfenden Truppe gen Berlin unbeschadet. Der Stoßseufzer der Mutter – „Mein Gott, wir leben noch“ – ist heute die Überschrift eines Kapitels im Buch.
Karl-Friedrich Lindenau nennt seine Erfahrungen mit den Russen als Sieger und Besatzer subjektiv. Er weiß, dass negative Erfahrungen sein Bild der aus dem Osten kommenden Befreier von Krieg und Diktatur möglicherweise in eine andere Sichtweise gelenkt hätte. Doch dem war nicht so. „Weder meine Mutter noch meine Schwestern wurden vergewaltigt, mein Vater wurde nicht erschossen oder verschleppt.“ In der russischen Lazarettstadt Schönewalde sieht der kleine Junge vielmehr russische Ärzte in ihrer typischen Montur. Später entschließt er sich zum Medizin-Studium in Leningrad.
Der dreieinhalbjährige Studienaufenthalt im heutigen St. Petersburg prägt den jungen Mann fürs Leben. Lindenau kann seine Sprachkenntnisse vertiefen, der Unterricht am Pawlow-Institut erfolgt nur auf Russisch. Freundschaften entstehen, mit seiner russischen Pflegefamilie Sidorow wird sie Jahrzehnte überdauern. Von der sehr praxisnahen Ausbildung – Lindenau operiert bereits unter Aufsicht des verantwortlichen Arztes innerhalb seiner sieben Semester Medizinstudium – profitiert der angehende Arzt, wie er sagt. Und er erhält entscheidende Impulse für seine spätere Ausbildung zum Herzchirurgen.
Viele kleine und größere Episoden seines Lebens als Gast in Russland oder als Gastgeber für russische Ärzte an der Charité in Ostberlin erzählt Lindenau in seinem Buch. Auch seiner Verehrung für die Schönheit der Stadt St. Petersburg gibt Lindenau Raum. Er beschreibt das Venedig des Nordens, das dennoch eine Millionenstadt ist. Sein Freund „Sascha“, Alexander Taratuchin, ist ihm Stadtführer und wertvoller Gesprächspartner zugleich. Die Musik von Tschaikowskij begleitet ihn durch die kulturell hochinteressante Stadt.
Den Lesern von „Was gehen mich die Russen an?“ eröffnen sich durch die Perspektive des ehemaligen Klinikchefs des Herzchirurgischen Zentrums Leipzig Bilder einer Beziehung zu Menschen in und aus Russland. Historisches Hintergrundwissen führt wieder in die Gegenwart. Die Spätaussiedler, Russlanddeutsche, sind heute Nachbarn des in Hohenroth lebenden Autors. Auch für ein besseres Verständnis ihrer Situation wirbt Lindenau: „Wir haben mit ihnen sehr einfühlsame und hilfsbereite Nachbarn dazugewonnen.“
Das Buch „Was gehen mich die Russen an?“ von Karl-Friedrich Lindenau ist im „verlag am park“ in der edition ost, Berlin 2010, erschienen.