Denk ich an Meiningen in der Nacht, dann denk ich zuerst an die Bernhardstraße, die eine so schöne Flaniermeile zum Theater hätte werden können, wenn sie nicht als vielbefahrene Durchgangsstraße dienen müsste.
Ich denke an die düsteren Herbstabende des Jahres 1989, als ich die Straße überquerte und mich bereits in der Kälte am Licht des Theaters erwärmen konnte, das zwischen den mächtigen Säulen aus den Fenstern des Foyers drang. Und noch immer liegt mir dieser Geruch von Braunkohlestaub und Minolgemisch in der Nase, der im Inneren des Theaters vom vertrauten Duft von Bohnerwachs und Staub abgelöst wurde. Genauso wie man Kälte und Nebel, die die Menschen draußen umhüllten, bereits im Vestibül des Hauses abstreifte.
Selbst wenn man 25 Jahre und einige Theatererlebnisse später denselben Weg ins Theater nimmt, schwingt die Erinnerung an jene Zeit mit, als der Meininger Musentempel – neben den Kirchen – eines der wenigen öffentlichen Refugien von freien, fantastischen, hoffnungsvollen, ja rebellischen Gedanken war, umgeben von der bedrückend grauen Atmosphäre jener Tage, Monate, Jahre.
Nie werde ich den Abend des 17. September 1989 vergessen, als Regisseur Albert R. Pasch das Dokudrama „Der Erste“ nach dem Buch des thüringischen Reportageschriftstellers Landolf Scherzer auf die Bühne brachte. Soviel Applaus auf offener Szene gab es seither nie mehr, nicht einmal bei den spektakulärsten Inszenierungen, die in den nächsten beiden Jahrzehnten folgen sollten. Thema des handlungsarmen Stückes war der realsozialistische Alltag eines SED-Kreissekretärs. Das Drama lebte nur von der Brisanz der Worte der Schauspieler, die die desillusionierten politischen und ökonomischen Funktionsträger mimten. Zwei, drei Monate später war „Der Erste“ Schnee von gestern. Die Meininger hatten anderes zu tun, als sich Mut, Hoffnung und Inspiration im Theater zu holen. Aber trotzdem war die Inszenierung so etwas wie ein erster Aufbruch der Theaterschaffenden in eine neue, unbekannte Zeit.
Bis Ende November 1989 formierte sich im Haus eine nahezu geschlossene Front gegen den parteitreuen Intendanten Jürgen Juhnke. Nach einer Betriebsversammlung ließen die 250 erschienenen Mitarbeiter (von insgesamt 340) ihr Leitungskader einfach sitzen. Rücktritte folgten. Kommissarisch übernahm Personalchefin Regina Schwabe die Intendanz. Der Spielplan geriet in diesen Monaten durch Erkrankungen und Weggang von Mitarbeitern in den Westen aus den Fugen. Und die Theaterleiterin sah als wesentliche Aufgabe einer Neurorientierung die Öffnung des Theaters nach Westen.
Die Westdeutschen ließen nicht lange auf sich warten. Bald machte die Kunde vom traditionsreichen Theater auch in Franken die Runde. Bereits vor der Grenzöffnung gab es ein Trüppchen kulturbeflissener Menschen aus Rhön und Grabfeld, das – vermittelt auch durch den Arbeitskreis Innerdeutsche Kontakte (AIK) – im kleinen Grenzverkehr ins Haus kam. Jetzt aber wurden die Meininger von Theaterfreunden aus den angrenzenden fränkischen und hessischen Regionen geradezu überrannt.
Besonders ab der Spielzeit 1990/91, als mit Ulrich Burkhardt ein im Osten aufgewachsener und in den Westen geflohener junger Dramaturg die Intendanz übernahm. Burkhardt brannte für sein Theater und erwartete dies auch von seinen Mitarbeitern. Das war der Beginn des zweiten Aufbruchs des Theaters in eine neue Zeit – und es war der nachhaltigste.
Das Prädikat „Südthüringisches Staatstheater“, das Burkhardt seinem Theater mit Witz und Verstand selbst verliehen hatte, hält sich bis heute.
Berühmte Regisseure und Künstler aus Ost und West setzten sich mit finanzierbaren Gastinszenierungen, Engagements und Vorträgen für das Theater hinter den sieben Bergen ein, das einst unter Herzog Georg II. im 19. Jahrhundert Wiege der europäischen Theaterreform war: August Everding, „Loriot“ Vicco von Bülow, Ephraim Kishon, Brigitte Fassbaender, Walter Jens, Mikis Theodorakis, Krzysztof Penderecki, Rolf Hochhuth, die Berliner Philharmoniker mit Claudio Abbado und Daniel Barenboim, Peter Konwitschny, Jewgenij Jewtuschenko, die Royal Shakespeare Company, Fritz Bennewitz, Manfred Wekwerth, Gunther Emmerlich.
Der Spielplan war moderat, keinesfalls avantgardistisch: Von der Wiederbelebung der Klassiker über leichte Muse und freche Musicals bis zu grenzüberschreitenden Problemstücken. Für jeden etwas. So konnte das Meininger Theater eine Erfolgsgeschichte schreiben, die ein beredtes Zeugnis für den Mut der Theatermacher wurde, ihre Sache selbstbewusst und selbstbestimmt in die Hand zu nehmen. Mit Blut, Schweiß, Tränen und Schläue. Und die Theaterfreunde aus dem Westen, aus Franken und Hessen, kamen in Scharen und machten – nicht zuletzt durch einen immensen Anstieg der Abozahlen auf über 5000 – das Meininger Theater in den 1990er Jahren neben der Leipziger Oper und der Dresdner Semperoper zur erfolgreichsten Theaterspielstätte in den neuen Bundesländern.
In dieser Erfolgsgeschichte darf man natürlich die Unterstützung durch zahlreiche Sponsoren nicht vergessen. Burkhardt und sein emsiges Team der Abteilung Öffentlichkeitsarbeit erwarben in der Folgezeit so etwas wie die Landesmeisterschaft im Klinkenputzen. Mit enormer Unterstützung von Theaterfreunden aus Rhön und Grabfeld – die traditionell mehr Südthüringen zugewandt waren als Mainfranken –, wurde ein Förderverein gegründet, der den klammen und ungesicherten Theaterhaushalt entlastete. Binnen drei Monaten im Herbst 1990 wurden 100 000 Mark Spendengelder übergeben, die gleiche Summe kam vom Landkreis Meiningen, 50 000 Mark steuerte die Partnerstadt Neu-Ulm bei und 20 000 Mark der Landkreis Rhön-Grabfeld.
Da es ja in den 1990er und 2000er Jahren noch ein paar weitere Aufbrüche des Meininger Theaters gab – Ära Mielitz, Ära Bosshart, Ära Haag –, ist im Nachhinein mehr als verständlich, dass sich die Blütezeit der Anfangsjahre nicht ewig halten ließ. Verschleißerscheinungen gab es schon am Ende der Ära Ulrich Burkhardt (der 1997 tödlich verunglückte). Christine Mielitz' Ring-Inzenierung bescherte den Meiningern noch einmal internationale Aufmerksamkeit und eine Zunahme der Besucherzahlen. Die Abozahlen von über 5000 wurden allerdings nach dem verheerenden Einbruch in der Bosshart-Ära nie wieder erreicht. Im Augenblick liegt man bei knapp 3000. Nach Auskunft des Theaters kommen in den vergangenen Jahren etwa 30 bis 50 Prozent der Abonnenten (je nach Abo) aus Franken und Hessen. Besucher aus diesen Regionen nützen dafür weit mehr als die Einheimischen den freien Verkauf, das heißt: sie kommen spontan. Und die Besucherzahlen insgesamt? In der Spielzeit 1989/90 wurden knapp 139 000 Besucher gezählt, in der Spielzeit 2013/14 etwas über 160 000. Dazwischen ging es mal steil bergauf, dann radikal bergab. Seit Jahren stabilisieren sich die Zahlen auf ziemlich hohem Niveau.
Aber Vorsicht! Die Worte, die Ulrich Burkhardt gegenüber unserer Zeitung im Mai 1991 geäußert hat, sollten nach wie vor in jeder Lebenslage des Theaters gelten: „Wir leben in einer Situation, in der alles möglich ist. Allzeit Improvisation. Ich denke, wir werden uns an diese Jahre mit Sehnsucht erinnern. Es werden die aufregendsten unseres Theaterlebens sein. Wenn alles wieder in geregelten Bahnen ist, wenn im Etat die Menge der Toilettenhandtücher und die Quadratmeterzahl der Frauen-Ruheräume unwiderruflich festgelegt ist, na, dann gnade uns Gott!“
Da wünscht man den Meiningern noch viele ungeregelte Bahnen, eine Menge nötiger Improvisationen und Zeit und Mut für Experimente. Und vielleicht wird eines schönen Tages doch noch ein Flanierboulevard aus der Bernhardstraße. Die einst unverwüstlich geglaubte DDR-Duftnote aus Braunkohlestaub und Minolgemisch jedenfalls ist nur noch Teil der Erinnerung.