So kennt man Ansgar Haag eher nicht: Zuhause im Gartenstuhl sitzend und den Kletterrosen beim Wachsen zusehend. Und wenn seine Frau nicht da ist, gießt er die Salatpflanzen im Gewächshäuschen. Sind das jetzt, ein paar Tage nach seinem 66. Geburtstag, untrügliche Vorzeichen eines Lebens im Ruhstand? Wohl kaum. Da ist noch viel zu viel Unruhe in ihm.
Natürlich wird sich Wesentliches im Leben des Intendanten des Staatstheaters Meiningen – mit der längsten Amtszeit in der Geschichte Meininger Intendanten –, natürlich wird sich Wesentliches im Tagesablauf ändern, wenn Haag mit Ende der Spielzeit das Haus verlässt. Etwas vorzeitiger als geplant, aber das hat landespolitisch-strategische Gründe und keine, die mit grundlegender Unzufriedenheit an seiner Amtsführung zu tun hätten. Unabhängig davon könnte man jedoch den Abschied auch so sehen, dass nach 16-jähriger Regierungszeit – genauso wie in einer langen Partnerschaft – eine Änderung der Lebensverhältnisse nicht das Schlechteste wäre. Ein frischer Wind, neue Ideen und spontane Flausen im Kopf wirken da allemal animierend.
Covid hat ihm viel Kraft geraubt
Noch geht Ansgar Haag tagtäglich von seinem Häuschen am Rohrer Berg ("Die selbsterarbeitete Bürgerlichkeit kann man jetzt fröhlich genießen.") hinunter ins Tal, zum Theater und wieder zurück. Wenn es seine Kräfte zulassen. Nachdem er eine schwere Coviderkrankung überwunden hat, aber noch geschwächt ist, gelingt ihm das Bergab-Bergauf zu Fuß selten. Wenn doch, dann hat er genügend Zeit die Gedanken schweifen zu lassen. Jedenfalls auf dem oberen Teil des Weges, wenn er den Kinderspielplatz kreuzt, durch den Parkfriedhof wandelt und manchmal am Grab von Klaus Rak innehält, das ohne Haags Zutun heute wahrscheinlich noch keinen Grabstein hätte. Die Ruhestätte des ehemaligen Operndirektors wäre nicht ein solch freundliches Refugium wie es nun eins ist. Immer wieder finden sich dort frische Blümchen, die Unbekannte hinterlassen. Das rührt den Intendanten.
Spätestens an diesem Ort kommt einem der leicht abgewandelte Schillersche Satz in den Kopf "Dem Intendanten flicht die Nachwelt keine Kränze." Oder doch? Wenn Ansgar Haag weiterläuft, ins Zentrum der Stadt, grüßen ihn mehr Menschen denn je, bleiben stehen, sagen ihm, dass sie seinen Abschied bedauerten. Aus Schaufenstern und Schaukästen winken ihm Remiszenzen aus seiner Meininger Ära zu und zum Ende seiner Amtszeit erschien sogar, zur Freude und Erhebung des Intendanten, ein Bildband mit ganz persönlichen Widmungen von Weggefährten und Weggefährtinnen.
Der richtige Mensch am richtigen Ort zur richtigen Zeit
Besonders gefreut hat Haag , dass auf der letzten Seite der jüngsten "Spektakel"-Ausgabe ein Dankesgruß des Nachfolgers und seines Teams steht, und nicht, wie vorgesehen, eine Abowerbung. Verständlich auch, dass die 44 Seiten, die der Chronist Alfred Erck in seiner erweiterten Geschichte des Meininger Theaters der Ära Haag widmet, den scheidenden Intendanten etwas unsterblicher machen. An dieser Stelle des Gesprächs zwinkert Haag zwar, gleichzeitig spürt man aber, wie wichtig es für ihn ist, sein Wirken in den Köpfen der Menschen verankert zu wissen, und sei es auch nur mittels gedruckter Worte, die nicht so leicht zerfallen.
Das sind verständliche Eitelkeiten eines Künstlers, der, als es ihn 2005 unter anekdotenwürdigen Umständen nach Meiningen verschlug, der richtige Mensch am richtigen Ort zur richtigen Zeit war. Dass er kein großer Administrator war und auch nicht sein wollte – daraus machte Haag nie einen Hehl. Schon vor den kritischen Augen des Stiftungsrats konterte er damals die Frage nach seiner Finanzkompetenz mit unerschütterlichem schwäbischen Frohmut: "Ach wissen Sie, wir sind ein gutes Team. Die Schwaben verstehen was von Geld. Also, ich bin Schwabe und die Verwaltungsdirektorin heißt Schwabe. Die beiden Schwaben werden den Haushalt schon gebacken kriegen."
"Ich hab nie den Intendanten raushängen lassen, um die Karriere zu befördern."
Ansgar Haag

Die Zeiten sind vorbei und kommen so auch nicht wieder. Aus dem Regisseur wurde als Intendant kein Theaterleiter, der mit Ellbogen um Anerkennung kämpfte. Ansgar Haag: "Diese Macht habe ich weder genossen noch konnte ich mit ihr umgehen. Ich hab ja auch nie den Intendanten raushängen lassen, um die Karriere zu befördern." Er machte sich nie den Zynismus und die Arroganz derjenigen zu eigen, die in jenen Kreisen oft den Ton angeben. Je staatstragender desto mehr. Über seinen Vorgänger und seinen Nachfolger fällt – auch off-records – kein böses Wort. Nein, Zyniker ist Ansgar Haag nicht. Das verhindert schon seine unorthodoxe, er nennt sie "dialektische" Gläubigkeit.
Sein Karriereweg ähnelt eher einer schwindelerregend kurvenreichen Berg- und Talbahn als einer zielstrebigen Aufwärtsbewegung: Vom Krankenpfleger zum bereits an der Falckenbergschule gescheiterten Schauspielstudenten (ein Dozent: "Sie sehen aus wie Hamlet, aber wenn Sie den Mund aufmachen – das geht nicht."), zum Regieassistenten an den Münchner Kammerspielen, zum Dramaturgen, Spielleiter, Regisseur in Bonn, Darmstadt, Krefeld, Mönchengladbach und Salzburg bis zur Intendanz in Ulm und Meiningen/Eisenach.
Ein holpriger Weg durch die Theaterlandschaft
Sein holpriger Weg durch die Theaterlandschaft festigte zwar sein Selbstbewusstsein, er blieb aber verletzlich. Wie sollte er reagieren, wenn sich blitzgescheite Zyniker und professionelle Besserwisser über ihn und seinen meist traditionell-naturalistischen Regiestil, dem nichts ferner liegt als avantgardistische Höhenflüge, hinter seinem Rücken lustig machen? Wie sollte er reagieren, wenn sie ihn wegen seiner schwäbischen Rhetorik belächeln, in der die Gedanken nicht selten die Rede überholen oder die Rede die Gedanken? Es schmerzt ihn zwar, aber er hat im Lauf der Zeit einen guten Weg gefunden, sich damit zu arrangieren. Er bleibt erst recht der, der er ist und geht unbedarft freundlich auf seine Kritiker zu.
Jetzt aber fährt er erst einmal ins Theater. Den Fußweg traut er sich noch nicht zu. Nach hartem Kampf hat er die peinliche Affäre um die Gelder für selbstständige Solokünstler geklärt, die während der Pandemie zwar arbeiteten und probten, aber die Werke nicht aufführen durften. Das Land Thüringen wollte nur bei Bühnenvollzug zahlen, doch Haag blieb zäh und erreichte, dass die Gelder den Menschen nun doch zukommen, immerhin eine dreiviertel Million Euro. Dafür lieben ihn die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen: dass er sich auch in Notzeiten auf ihre Seite stellt und nicht die zweifelhaften Direktiven von oben klaglos hinnimmt. Das nennt man Zivilcourage.

Wie geht es weiter?
Trotzdem bleibt an diesem Nachmittag bei Kaffee und Halorenkugeln die Frage: "Was nun, Herr Haag?" - Die nächste berufliche Zukunft ist für ihn gewiss: die Inszenierung von Wagners "Lohengrin" in der kommenden Spielzeit. Natürlich wird er mit seinen Ideen auch bei anderen Häusern anklopfen. Die Pläne für die größeren Missionen in diesem Jahr wurden ja durch die Pandemie zunichte gemacht. Seine "Maria Stuart" liegt in der Schublade. Eine Einladung nach São Paulo musste abgesagt werden, die Uraufführung einer norwegischen Oper im Hause verschoben. Er wird’s weiter versuchen.
Eine einfache Antwort auf das "Wie weiter?" ist Ansgar Haag nicht zu entlocken. Immer wieder mäandert er von Ereignis zu Ereignis, von Anekdote zu Anekdote. Jede einzelne nimmt man mit ungläubigem Staunen zur Kenntnis: Sein Vater wurde als Sympathisant der Widerstandsgruppe um die Geschwister Scholl von den Nazis zum Tode verurteilt und entkam der Hinrichtung nur durch einen Zufall.
Zweimal sprang Haag dem Tod von der Schippe
Oder: Zweimal sprang Haag während seiner Zeit als Krankenpfleger selbst dem Tod von der Schippe. Als mit einem Ebolavorläufer Infizierter in Ruanda. Als Beinahe-Opfer des Zyankalianschlags einer Ehefrau auf ihren in der Psychiatrie untergebrachten Mann. Oder: Höhepunkt seiner Hollywoodkarriere während eines einjährigen Aufenthalts in den USA war eine Statistenrolle in John Travoltas "Saturday Night Fever". Obwohl er sich nie in den Massenszenen auf der Leinwand wiederfand.
Oder: In New York stöberte er John Cage in einem heruntergekommenen Haus in Soho auf und entlockte ihm eine Unterschrift, die die Inszenierung seiner "Writings through Finnegans Wake" in Bonn ermöglichte. Und und und. Ansgar Haag könnte wochenlang von seinen Erinnerungen erzählen. Sie böten genügend Stoff, aus dem Romane sind oder zumindest Autobiografien. Ob die Schriftstellerei für ihn allerdings eine Option wäre, ist fraglich. Dazu inspiriert ihn die Bühnenluft zu heftig. Noch.
Der Kritiker geht nach Hause, blättert noch einmal die 44 Seiten Ära Haag in der Geschichte des Meininger Theaters durch, sichtet seine Kritiken zu den Haagschen Inszenierungen (von "atemberaubend" über "heiter" bis "ziemlich wolkig"). Ja, es waren Sternstunden dabei, der erste Teil der Faust-Inszenierung etwa (2007), und dann das Operngeschehen ab den 2010er Jahren, mit einem fantastischen jungen und experimentierfreudigen Ensemble, Lucia di Lammermoor (2016), Tosca (2018) und nicht zu vergessen: die Oper im kleinen Format, "Through His Teeth" (2020).

Ansgar Haag verschweigt seine Ängste nicht
Eins jedenfalls ist sicher: Das Bild des Ansgar Haag fällt aus dem Rahmen der Bilder, die man sich gemeinhin von Intendanten macht. Er ist auf erfrischende Weise offenherzig, verletzlich, selbstkritisch und selbstironisch. Und er verschweigt seine Ängste nicht. Solche Menschen findet man in künstlerischen Sphären eher selten. So sollten ihn die Freunde des Meininger Theaters in Erinnerung behalten, ob nun irgendwann mal eine Straße nach ihm benannt wird oder nicht.
Jedenfalls wird Ansgar Haag weiterhin vom Rohrer Berg aus über Kinderspielplatz, Parkfriedhof und Stadtzentrum zum Theater flanieren, wenn es denn die Kräfte zulassen. Aber, keine Sorge, er wird nicht, wie mancher Pensionär, nach dem Rechten gucken. Nein, er würde gerne ab und zu eine Inszenierung anpacken. Oder einfach nur im Saal sitzen und darüber staunen, was auf der Bühne über die Mühen und Freuden des Lebens erzählt wird. Und er wird nicht vergessen, vorher die Salatpflanzen zu gießen.
