Es ist Sonntagabend, die Oberschenkel sind wie aus Holz, die Augen brennen. Ich habe mir ein Bier aufgemacht, aber es schmeckt nicht. Ist auch kein Wunder – ich bin heute mit Udo Bölts den Rhöner Kuppenritt gefahren.
Udo Bölts, das ist der mit dem sadistischen Imperativ: „Quäl dich, du Sau!“. Der aus den goldenen Radsportjahren in Deutschland, deren Glanz aber nach etlichen Dopingenthüllungen verblasste. Udo Bölts gilt als Legende der Härte, als King of Pain: In zwölf Jahren trat er zwölfmal bei der Tour de France an und kam stets in Paris an.
Der Einheinzer von Jan Ullrich
Klar hatte der Pfälzer seine eigenen Erfolge: Drei deutsche Meistertitel, Sieger des hochklassigen französischen Etappenrennens Dauphiné Libéré oder der Gewinn des baskischen Radklassikers in San Sebastián, aber am wenigsten vergessen wird ihm seine Rolle als Anheizer, in der er den 23-jährigen Ullrich 1997 bei Dampf hielt, bis dieser als bislang einziger Deutscher in Gelb nach Paris kam.
30 Jahre Leistungssport
Wenn einer 30 Jahre Leistungssport betreibt, sieht man ihm das an. Der Radsport zum Beispiel macht Seemannsgesichter: Sonne, Wind, Schweiß und Tränen zerpflügen die Kopfvorderseite. Der Oberkörper schmal und knochig, dazu die überproportionalen Beine eines 25-jährigen Radprofis. Udo Bölts wird aber nächsten Monat 50.
Die Fahrt beginnt. 30 Mountainbiker, die sich um die Mitfahrt mit dem Altstar beworben haben, verlassen das Sportgelände des TSV Brendlorenzen. Der Kissinger Walter Lauter betätigt sich als Navigator und Bölts kann die Rhön genießen. Eigentlich ist er müde: Am Tag zuvor ist er aus Kanada angereist, wo er ein Etappenrennen bestritten hat. Gestürzt ist er auch und kann den Arm nicht heben. Aber Radfahren geht.
Das Rad als natürlicher Köperfortsatz
Wenn andere Radprofis ihre Karriere beschließen, betreiben Sie ein Hotel oder ein Sportgeschäft und lassen ihren eckigen Körper runder werden. Bölts pedaliert, rennt, krault, schwitzt – 13 Jahre nach Ende seiner Profikarriere. Ich will wissen, warum.
Udo Bölts versteht die Frage anders, als ich sie gedacht habe: „Na ja, ich hab mich schon immer für andere Ausdauersportarten interessiert: Laufen, Mountainbiken, Triathlon – nach dem Profisport hatte ich endlich Zeit dafür!“ Bölts ist kein Theoretiker, auf dem Rad ist er im Hier und Jetzt vollkommen präsent. Er sieht kleine Nebenwege, springt, kürzt ab, umkurvt uns. Das Rad ist sein natürlicher Körperfortsatz.
Wenig Kontakt zu Jan Ullrich
Bergan nach der Raststation in Bad Bocklet reißt einem Mitfahrer die Kette. Keiner hat passenden Ersatz dabei. Bölts widmet sich dem defekten Antriebsstrang und schafft es, die Kette unorthodox leicht zu kürzen und mit gebrauchten Teilen wieder zu schließen. Entgegen seiner eigenen Befürchtung hält das Provisorium bis zum Schluss.
Es macht ihm nichts aus, immer noch nach Jan Ullrich gefragt zu werden: „Wir haben uns schon lange nicht mehr gesehen. Vor ein paar Monaten hat er mir eine WhatsApp geschrieben, ob ich zu ,Rund um Köln‘ komme; ich konnte aber nicht.“
Bölts als Anschieber
Eigentlich treibt ihn Näherliegendes um: Er will sich beeilen und noch ins heimische Heltersberg (Rheinland-Pfalz) kommen, bevor sein 16-jähriger Sohn seine erste Flugreise ohne elterliche Begleitung antritt. Wir verlassen Waldberg in Richtung Kreuzberg und der Gegenwind frischt etwas auf. Wir sind mit fünf Leuten an der Gruppenspitze, und ich merke, wie mir die Milchsäure in die Beine steigt. Ich falle ein paar Meter zurück und bekomme plötzlich einen heftigen Schub von hinten. „Aufschließen! Jetzt keine Lücke lassen!“, schreit Bölts, schiebt mich an und lacht. Ich frage mich, ob er Ullrich auch zum Toursieg geschoben hat.
Halluzinationen
Am Guckaspass muss ich endgültig reißen lassen. Die Verpflegungsstation am Kloster Kreuzberg rettet mich vorübergehend, aber nach den nächsten Höhenmetern beginne ich am Sendemast, Artefakte zu sehen: blaue und rosafarbene Quadrate schweben über den Rasen. Am Limit halluziniert man manchmal. An der berühmten Kreuzigungsgruppe wollte ich das wichtigste Foto für diese Reportage schießen und die Radsportlegende ein für alle Mal bildlich mit der Rhön verbinden, nur: Ich schaffe es nicht mehr, zu ihm vorzufahren.
Das Laktat lähmt meinen ganzen Körper. Die lange Abfahrt muss ich ohne Udo bewältigen, von dem ich nur noch eine Staubwolke sehe. Er fährt ein vollgefedertes Rad des kanadischen Herstellers, der ihn als Markenbotschafter überhaupt in die Rhön beordert hat. Ich tue, was ich kann, um auf meinem ungefederten Mountainbike von 1995 zu bleiben, passiere Gestürzte und hopple in lächerlicher Geschwindigkeit dem Brendtal entgegen.
Schnell nach Hause
Als ich auf dem TSV-Sportgelände mein Rad achtlos vor Udos Ausstellungsstand ins Gras fallen lasse, schreibt er, bereits geduscht, Autogramme. Er will möglichst schnell nach Hause zur Familie und hat die eigentliche Autogrammstunde abgesagt, signiert aber dennoch alle Karten, Startnummern, Rucksäcke und was ihm sonst noch gereicht wird.
Ich habe Schwierigkeiten, gerade aus den Augen zu gucken, mir ist etwas übel, der Trubel im Ziel wird mir zu viel. Ich verabschiede mich von Udo. In zähen Pedalumdrehungen fahre ich auf den Neustadter Marktplatz und lasse mir einen Eiskaffee servieren. Ich vergesse, ihn zu trinken, und schlafe im Stuhl ein. Ein paar Minuten. Nach dem Aufwachen lasse ich mich mit dem Auto abholen. Ich kann heute nicht mehr fahren. Aber morgen wieder.