„Liszt vertanzt“ – ein leicht misszuverstehender Titel, den sich die Eisenacher Ballettcompagnie für ihr neuestes Projekt im Umfeld der Thüringer Liszt-Biennale gewählt hat. Am vergangenen Freitag wurde es in den Meininger Kammerspielen uraufgeführt. Mit „vertanzen“ könnte man mühelos assoziieren: ins Ungefähre hineintanzen.
Stimmung tanzen
Natürlich will das Choreograf Andris Plucis nicht. Er möchte die Stimmungen der Musik Franz Liszts und die Seelenzustände Franz Schuberts – des zweiten „vertanzten“ Komponisten des Abends – visualisieren. Wie bereits bei Plucis' E.T.A.-Hoffmann-Projekt sind die Ansprüche des Choreografen hoch. Schließlich steht ihm ein motiviertes, experimentierfreudiges und tänzerisch hervorragendes junges Ensemble zur Verfügung, und eine hochbegabte, bereits mit zahlreichen Preisen geehrte Pianistin, die 19-jährige Susanna De Secondi. Sie intoniert auf einem Foerster-Flügel vom Bühnenrand aus die Stücke live: Eines von Schuberts letzten Werken, die viersätzige Sonate in A-Dur, Franz Liszts Ungarische Rhapsodien Nr. 10 und 19 und zum Abschluss zwei „Legenden“, die sich auf religiöse Themen beziehen.
Wie wächst aus diesem kontrastreichen Programm so etwas wie ein natürlich erscheinender Spannungsbogen, der die Extreme verbindet? Schubert, den introvertierten, kränkelnden, zu Lebzeiten unterschätzten Künstler, mit Liszt, dem Extrovertierten – im Gegensatz zu dem von ihm verehrten Kollegen ein Bild von einem Mann und ein Meister der Selbstvermarktung.
Um es vorwegzunehmen: Ein elegant geschwungener dramaturgischer Bogen ist für den Laien schwerlich zu erkennen. Es gibt ein Bild, das sich durch den Abend zieht. Bei Schuberts Sonate steht ein Gartenhäuschen mit Gartenstühlen auf der Bühne (Bühnenbild: Helge Ullmann und Andris Plucis, Kostüme: Danielle Jost), in dem sich der sterbenskranke Komponist im Schlafrock aufhält und immer wieder mit seinen (zivil und modern gekleideten) Fantasiefiguren tanzt.
Auf den Kopf gestellt
Nach der Pause findet man das Häuschen, kopfüber hängend, über den Tänzern schwebend. Schuberts Welt durch Liszt auf den Kopf gestellt? Liszt, der die Fantasien in blumig-leichten Gewändern zum Schweben bringt, die bei Schubert noch am Boden verhaftet sind? Hier beginnen die Spekulationen, und sie enden nicht mit De Secondis virtuosem Spiel, dem in den leisen, innigen Passagen manchmal eine gewisse Sanftheit des Anschlags fehlt.
Plucis möchte mit dem Tanz innere Bilder widerspiegeln und im Betrachter einen Bilderreigen auslösen, der komplementär zur Musik existiert. Manchmal entstehen tatsächlich solche Augenblicksbilder, mit denen man Liebessehnsucht, Abweisung, Eifersucht, Verzweiflung, Einsamkeit, wiederaufkeimende Hoffnung, Freude verbindet. Aber bevor sich diese Bilder zu einem Reigen verdichten, verschwinden sie wieder, beenden die Tänzer ihre kurzen Skizzen mit dem obligatorisch gemessenen Schritt, erhobenen Hauptes und mimisch nahezu regungslos.
Zweimal jedoch geschieht etwas Überraschendes: Musik, Tanz und die Fantasie des Betrachters finden auf wunderbare Weise zusammen. Im vierten Satz von Schuberts Sonate, dem Rondo, versucht sich der Komponist Schritt für Schritt seinen Fantasiegebilden zu nähern. Er stellt sie dorthin, wo er sie haben will. Nur bei einer Figur gelingt ihm das nicht. Sie entzieht sich ihm immer wieder. Beeindruckend getanzt wird diese Szene von Nikolay Korobko und Zanna Cornelis.
Tanzstunde
Auch in Liszts Ungarischer Rhapsodie Nr. 10 erlebt man Erstaunliches. Die allzu kunstvoll arrangierte Contenance der Tänzer und Tänzerinnen, ihre steife Mimik, ihre erhabenen Bewegungen entspannen sich, füllen sich mit wirklichem Leben. Plötzlich befindet man sich in einer Art Tanzstunde, in der die Gefühle der jungen Schüler augenzwinkernd lebendig werden, vom tölpelhaften Verhalten bis zum gepflegten Paar- und Gruppentanz.
Im Leben verortbare Stimmungen und Seelenzustände, manchmal komisch, manchmal tragisch, hier überschwänglich, dort leise, in Augenblicken himmelhoch jauchzend, dann wieder zu Tode betrübt, aber frei von großartigen Bedeutungsschwangerschaften – so könnte ein Reigen von lebensnahen Bildern vom Anfang bis zum Ende entstehen.
Nächste Vorstellung: 6. Juni, 20 Uhr, in den Kammerspielen. Karten: Tel. (0 36 93) 451 222 oder 451 137; www.das-meininger-theater.de