„Für mich gab es kein Ziel mehr, für mich war Ende.“ Diese verzweifelten Worte schreibt Svetlana Aitmatowa in ihr Tagebuch, kurz bevor sie einen Suizidversuch begeht. Svetlana, das war die Hauptfigur des bewegenden Theaterstücks „Oneway“, das die Theatergruppe der Ignaz-Reder-Realschule in beeindruckender Weise am vergangenen Donnerstag auf die Bühne brachte.
Die Silhouette eines Mädchens steht auf Bahngleisen. Im Hintergrund rauscht ein Zug heran. Im letzten Moment reißt sie jemand um, ehe sie erfasst werden kann. Eine beklemmende Eröffnungsszene. „Wenn der Schulalltag zur Hölle wird – eine Geschichte über Mobbing“, lautet der Untertitel des Stücks, das eine wohl an jeder Schule aktuelle und brisante Thematik behandelt und anregen soll, im Alltag genauer hinzusehen. So kündigte Schulleiter Ulrich Kluge bei der Begrüßung in der voll besetzten Aula der Realschule ein „tragisches, nachdenklich machendes Stück“ an. Und das war es in der Tat.
Hauptfigur ist die junge Svetlana Aitmatowa (ganz stark: Achtklässlerin Kristin Schreiber), die gemeinsam mit ihrer Mutter Anna (Katharina Werner) und ihrem Stiefvater Oleg (Felix Hoßfeld) aus der Ukraine nach Deutschland immigriert. Aufgrund ihrer ausgezeichneten Leistungen an der Realschule, erhält sie ein Stipendium für das Elite-Internat Erlenhof. Die anfänglich große Freude wandelt sich bei Svetlana schnell in Ernüchterung um. Als „Externe“ findet sie keinen Zugang zur Klassengemeinschaft, beim Mittagessen in der Kantine ist nirgends ein Stuhl für sie frei, sie trägt nicht die gleiche, teure Kleidung wie ihre Mitschüler, kurzum: Sie ist anders. Und das lässt man sie spüren.
Einmal erklärt ihre Mitschülerin Marcia (Lina Geis) - von der Svetlana die vage Hoffnung hat, sie könnte ihre Freundin werden, die jedoch umso bitterer enttäuscht wird, als Marcia ihr Geburtstagsgeschenk (ein Muff, Svetlanas wertvollster Besitz) ablehnt und somit auch die Einladung zur Geburtstagsfeier verweigert – dass sie Svetlana ausgrenzen, weil sie eine Familie hat und zu Hause wohnt, während sich die Internatsbewohner als Waisen empfinden und deshalb Wut und Neid entwickeln. Ihre guten schulischen Leistungen, weshalb sie ständig als „Streberin“ beschimpft wird, lassen ihre Mitschüler zudem schlecht aussehen, wie diese ihr später offenbaren und ihr vorwerfen: „Bevor du gekommen bist, hatten wir ein schönes Leben!“ Das reicht den Mobbern wohl als Rechtfertigung für die Spirale der Grausamkeiten, die sich daraufhin entwickelt.
Hinter dem Rücken getuschelt
Es wird hinter Svetlanas Rücken über sie getuschelt, im Unterricht wird sie mit Papierkugeln beworfen, sie wird zu keiner Party eingeladen und es werden per Smartphone und Internet die Möglichkeiten der modernen Kommunikation genutzt, um sie anonym verbal und mit Fotomontagen zu beleidigen und bloßzustellen. Noch schlimmer wird die Lage, als Svetlanas Mutter eine Stelle als Reinigungskraft im Internat antritt. Spott und Hänseleien ihrer Mitschüler, allen voran der Wortführer Annika, Felicitas, Naddel, Tilly und Simon (überzeugend gemein: Lea Stegmann, Shana Braungardt-Zink, Leonie Kirchner, Antonia Fries und Kevin Diemar) nehmen noch zu. Nach dem Maifest ihrer Schule, zu dem sie aus Gefälligkeit für ihren Vater ein Trachtenkleid trägt, das sie selbst als „fürchterlich kitschig“ beschreibt, wird sie im Internet-Schüler-Forum des Internats zum „hässlichsten Mädchen der Schule“ gewählt.
Mehr und mehr belastet der endlose Strom an Gemeinheiten auch Svetlanas Verhältnis zu Ravi (Erik Hofmann), ihrem einzigen Freund am Internat, zu dem sich sogar eine zarte Liebesbeziehung entwickelt. Und auch in der Familie zieht sich Svetlana immer mehr zurück. Kristin Schreiber gelang es hervorragend, die innere Zerrissenheit Svetlanas darzustellen, die zwischen Unverständnis, Trotz und Verzweiflung hin- und herschwingt, sich in den Pausen auf dem Klo versteckt und später der Schule sogar ganz fern bleibt.
Von selbstsicheren Aussagen, wie „Ich bin kein Opfer“, bis zur naiven Annahme, dass sie nur ebenfalls teure Kleidung brauche, um akzeptiert zu werden, was letztlich zu Ladendiebstählen führt, spiegelt sich das ganze Ausmaß der Hilflosigkeit des Mädchens wieder, das sich ihren Eltern aus Scham und dem paradoxen Gefühl, selbst Schuld an der Situation zu tragen, nicht anvertraut und wenn sie es den Lehrern gegenüber nur andeutungsweise versucht, von ihren Mitschülern umso stärker gedemütigt wird.
Am Ende steht Svetlana auf den Bahngleisen und der Zug nähert sich. „Die Vorstellung hat etwas tröstendes, kein Schmerz mehr, nichts mehr fühlen“, schreibt sie.
Erzählt wird die Geschichte aus der Retrospektive. Nach dem Suizidversuch, bei dem Ravi sie gerade noch retten kann, kommt Svetlana zu einer Psychologin (Janina Herbert). Zwar kann sie nicht über die Ereignisse sprechen, jedoch händigt sie der Ärztin ihr Tagebuch aus. Daraus liest die Psychiaterin vor und der Zuschauer taucht in die Szenen ein, die Svetlana beschreibt. Die schnellen Wechsel der Schauplätze – wobei die aufwändigen Umbauarbeiten mit passender, melancholischer Musik unterlegt werden – verstärken das Gefühl, in einem Sog gefangen zu sein, der unweigerlich auf den Bahngleisen enden muss. Mit tollen Regieeinfällen, wie der Einheitskleidung aller Internatsschüler in rosa T-Shirts, aus denen Svetlana mit ihrem grünen Top, auf dem steht „I am my own star“ (Ich bin mein eigener Stern), heraussticht, wird die Eindringlichkeit des Stücks noch verstärkt.
So rang auch Direktor Kluge um Fassung, als er der Theatergruppe, bestehend aus Schülern der siebten bis zehnten Klassen, für die „sehr eindrucksvolle“ Aufführung dankte, nach der man „nicht einfach in den Alltag zurück“ gehen könne. Technik und Bühnenbild wurden ebenso von Schülern gestaltet und organisiert, wie die Verpflegung während der Pause. Ein großes Dankeschön sprach die Theatergruppe ihrer Leitung, um Lehrerin Julia Waldner und Tanja Trabert, die im letzten Jahr ihren Abschluss an der Realschule machte, jetzt das Gymnasium besucht, der Theatergruppe aber dennoch treu geblieben ist, aus. Aufmerksame Stille während der Vorführung und langer, kräftiger Applaus danach bestätigten, dass auch das Publikum von der aufwühlenden Geschichte gepackt wurde.