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Wilde Partys auf der Titanic

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Wilde Partys auf der Titanic

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    So ging man in den 70er Jahren in die Disco: Lange Haare und Hippie-Klamotten waren Pflicht, auch in der Heustreuer Discothek Titanic.
    So ging man in den 70er Jahren in die Disco: Lange Haare und Hippie-Klamotten waren Pflicht, auch in der Heustreuer Discothek Titanic. Foto: Foto: Angelika Ziegler

    Egal, ob „Wilde 60er“ oder „Schrille 70er“: zu den bedeutendsten Fluchtpunkten, die die aufbegehrende, neugierige, unbefriedigte, erlebnishungrige, frustrierte oder einfach nur gelangweilte Jugend zwischen Rhön und Grabfeld heimsuchte, gehörte – sehr zum Leidwesen der Altvorderen – die Heustreuer Disco „Titanic“. Über die Gründerzeit des Etablissements, das sozusagen in Handarbeit einer Unterelsbacher Landwirtsfamilie entstanden war, haben wir bereits in unserer 1960er-Serie berichtet.

    Die „Titanic“, in der Dorfmitte von Heustreu, direkt gegenüber der Kirche, war von 1968 bis in die 1980er Jahre eine legendäre Discothek, die als erste ihrer Art den Sound der späten 1960er Jahre in die Rhön brachte. Gustl Holzheimer aus Schmalwasser, der die Musikszene jener Jahre aus dem ff kennt und bis in seine vierziger Jahre als Discjockey arbeitete, bestätigt den guten Anfangsruf der Heustreuer Disco: „Die hatten die heißeste Musik. 'Ten Years After', 'Fleetwood Mac', 'Grateful Dead', Frank Zappa, James Brown – eine einzigartige Mischung aus Hardrock, Soul und Reggae. Die Musik der Beatles hatte da keine Chance: viel zu seicht.“

    Nicht zuletzt Johnny, einem der ersten Discjockeys dort, waren die heißen Platten zu verdanken, die in der „Titanic“ am Anfang aufgelegt wurden und die – selbst, wenn man die Texte nicht verstand – bei vielen jungen Menschen dieses gewisse innere Rumoren gegen die empfundene Enge bestärkten. Johnny hatte sie in einem Schweinfurter Plattenladen besorgt.

    Wenn man ihn heute nach diesen wilden Jahren fragt: Er will nicht mehr daran erinnert werden. Als erfolgreicher Geschäftsmann fürchtet er um seinen guten Ruf bei potenten Auftraggebern. Soviel, ganz nebenbei, zur Nachhaltigkeit der Rhöner Kulturrevolution jener Jahre.

    Die kurze Blütezeit der Heustreuer Disco, bevor sie ihre Unschuld verlor, endete 1973. Danach nahmen die Dinge – wie andernorts auch – ihren Lauf: Die Titanic und die stillen Winkel drumherum wurden immer mehr zum heimlichen Zentrum des Handels mit Drogen, auch mit harten. In den Medien wurde Heustreu sogar als bedeutender Drogenumschlagplatz im süddeutschen Raum bezeichnet. Vom alternativen Lebensgefühl der jungen Leute, von Aufbruchsstimmung, blieb da kaum etwas übrig. Dass ein solch alternatives Jugendzentrum wie die Discothek in einem kleinen Ort wie Heustreu auf gehörige Skepsis bei den älteren Einwohnern stieß, versteht sich von selbst.

    Besonders heikel war die Lage für Klaus, der als eines von vier Kindern eines langjährigen Heustreuer Bürgermeisters aufwuchs. Ihm war Mitte der 70er Jahre jeglicher Besuch der Titanic bei Androhung körperlicher Gewalt strengstens verboten. Sein Vater erinnert sich an den jahrelangen Kampf des Heustreuer Gemeinderats gegen die Discothek mitten im Dorf, der schließlich mit einer Vorverlegung der Sperrstunde auf 22 Uhr endete. Und er erinnert sich daran, wie er mit harter Hand seine Kinder davon abhalten wollte, diesen frevelhaften Vergnügungen etwas abzugewinnen. Am Sonntag nach der Kirche zusammen mit Vater – die Mutter kochte derweil das Mittagessen – in der Wohnküche gemeinsam Flöte zu spielen, das war Jugendkultur im Sinne des Schöpfers: „Im Märzen der Bauer“, „Wohlan, die Luft geht frisch und rein“ und selbstverständlich Kirchenlieder (tatsächlich wurde aus Klaus, der mit neun Jahren Tenorhorn spielen lernte ein guter Blaskapellenmusiker). Aber kein „Nüber- und Rübergschubs“ in düsteren, obskuren Räumen zu noch obskureren Klängen. Caterina Valente, Peter Alexander, Freddy Quinn, Roy Black – das waren die akzeptierten Sangeskünstler der Elterngeneration. Nicht diese fürchterlich langhaarigen und ungepflegten Gestalten aus einer völlig fremden Welt.

    Trotz oder gerade wegen der jahrelang kultivierten Zucht und Ordnung in der Erziehung durch Vater, Lehrer, Pfarrer, Ordensschwestern - noch 1973 gab es Schläge! - wuchs und wuchs in Klaus das unstillbare Verlangen nach dem Verbotenen.

    An einem Freitagabend um halb zehn, nach der Musikprobe, schaffte er es das erste Mal. Da war er fünfzehn. Als prägender Eindruck blieb ihm Rita in Erinnerung, Rita, die Discochefin nach der Gründerära, vollbusig und ganzlederbekleidet. Mit exotischem Schmuckgehänge stand sie hinter der Theke und bediente. Eine Außerirdische? Und dann das Herzstück des Schuppens: der abgesägte Vorderteil eines alten, bunt bemalten VW-Bully, mit geteilter Frontscheibe. Im Führerhaus saß der Discjockey, und dort, wo sonst das Armaturenbrett war, befanden sich jetzt die HiFi-Anlagen. Natürlich hatte der VW-Bus seine indische Erleuchtung bereits hinter sich. Heustreu – Neu Delhi und zurück. „Hare Krishna!“

    Von „No Satisfaction“ bis zum Mantra indischer Gurus – mit der Kommerzialisierung der neuen Protestbewegungen wurde alles Bestandteil der herrschenden Kulturindustrie – wie die kritische Philosophie jener Tage scharfsinnig feststellte. Denn dass sich mit alternativen Discotheken eine Menge Geld verdienen ließ, genauso wie mit der Vermarktung des ursprünglich chaotischen Rock- und Popbetriebs (siehe Woodstock), gehört zur Alltagsrealität. Doch diese Tatsache nahm den wenigstens Discogängern den Spaß an der Freude. „Wir haben einfach unseren Frust abgetanzt“, sagen die einen, „Es war eine Nische, in die uns die, die sonst das Sagen hatten, nicht folgen konnten“, sagen die anderen.

    Und die dritten tranken ihre Cola, ihre Halbe Weißbier oder rauchten ihren Joint, verfolgten das Treiben und hatten nichts anderes im Sinn als das Abhängen vom nüchternen Alltag. Aufbruch in eine bessere Welt? Das war gestern.

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