Liebe Leserin, lieber Leser,
als Internatsschüler der Franziskaner war ich von dem hier abgebildeten Kruzifix in der Würzburger Neumünsterkirche fasziniert, mehr aber noch von der Legende darüber. Danach war die Christusfigur einst mit einer goldenen Kette versehen, die ein frommer Gläubiger in Erfüllung eines Gelübdes gestiftet hatte.

Dieses Schmuckstück rief einen Dieb auf den Plan. Er ließ sich am Abend in der Kirche einschließen, um die Kette zu stehlen. Doch bei der Tatausführung lösten sich plötzlich Jesu Arme samt Nägel vom Querbalken und umklammerten den Dieb. Aus Angst zu ersticken, rief er um Hilfe. Das hörten die Leute. So wurde er entdeckt und festgenommen. Die Arme des Gekreuzigten aber blieben in der gleichen Lage, auch als sie den Dieb wieder losgelassen hatten. So ist dieses Kreuz heute noch zu bestaunen.
Die Legende ist sicher deshalb entstanden, weil diese Art der Darstellung des gekreuzigten Heilands sehr ungewöhnlich war und nicht der allgemeinen Norm entsprach. Aber der unbekannte Nürnberger Künstler hat bei der Schaffung dieser um 1350 entstandenen Holzplastik natürlich etwas ganz Bestimmtes ausdrücken wollen: Der Angenagelte hat sich Bewegungsfreiheit verschafft. Jesus lässt sich nicht einfach „festmachen, fixieren, festnageln“. Weder durch die Nägel am Kreuz noch durch Gedanken, Erklärungen und die vielen theologischen Aussagen, die von bedeutenden Menschen im Laufe der Jahrhunderte unter die Leute gebracht wurden.
Denn deren Aussagen sind immer in Gefahr, Jesus in seinen Reden und Taten auf bestimmte Vorstellungen der jeweiligen Zeit zu fixieren oder sogar zu dogmatisieren. Das Bild des Gekreuzigten ist deshalb auch eine Anfrage an unsere eigenen Jesus-Bilder: Wo zwängen wir Jesus und seine Botschaft in den begrenzten Horizont unserer Wünsche, Vorstellungen und Erwartungen? Ausdrucksvoll ist auch das Gesicht des Gekreuzigten. Der Mund ist nicht geschlossen, Jesus spricht also. Die Augen sind offen und auf den Betrachter gerichtet. Dieser Blickkontakt ist ebenso eine Botschaft: Jesus verliert auch bei seinen eigenen Verwundungen den Menschen nicht aus den Augen. Sein Blick vermittelt Nähe und Geborgenheit: In seinen Armen dürfen wir uns mit unseren großen und kleinen Lebensverwundungen gehalten und geborgen fühlen. Jesus schnürt niemandem die Luft ab. Die offenen Arme und sein Blick wirken auch als Einladung: „Kommt alle zu mir, die ihr euch plagt und schwere Lasten zu tragen habt. Ich will euch Ruhe verschaffen.“ (Mt. 11,28).
Und wieder ist die Darstellung eine Anfrage an unser Christsein: Leben wir so, dass durch unseren Umgang mit den Menschen Freiräume der Geborgenheit und des Angenommenseins entstehen? Oder wirkt unser Verhalten anderen gegenüber vereinnahmend und erdrückend? Dann nämlich bekäme die alte fränkische Legende doch noch eine beängstigende und bedrohende Aktualität.
Hermann Spiegel Ehrenamtlicher Mitarbeiter, Ostheim