Die Situation sei weltweit noch nie so schlecht gewesen wie jetzt. 60 Jahre nach der Gründung von Amnesty International (ai) zeichnet Generalsekretärin Agnés Callamard ein düsteres Bild der weltweiten Situation der Menschenrechte. Der jüngste Vorfall in Belarus ist dafür Beleg. Staatschef Lukaschenko ließ dort in einer beispiellosen Aktion ein Flugzeug zur Landung zwingen, um einen Regierungskritiker festzunehmen.
"Wir hatten schon mehrere Fälle aus Belarus", weist der Schweinfurter ai-Sprecher Ulrich Philipp auf die systematischen Menschenrechtsverletzungen in der früheren Sowjetrepublik hin. Das von Präsident Alexander Lukaschenko regierte Land wird häufig als letzte Diktatur Europas bezeichnet, weil in dem autoritärem Regime oppositionelle Stimmen zum Schweigen gebracht werden. Auch die Aktivitäten des Menschenrechtsaktivisten Ales Bjaljazki wollte man unterbinden. Er war 2011 zu viereinhalb Jahren Haft verurteilt worden.

Die Schweinfurter ai-Gruppe übernahm 2012 seinen Fall, schrieb Briefe und sammelte Unterschriften. Viele hundert Bürger unterzeichneten Petitionen mit der Freilassungsforderung an die Regierung in Belarus. Dies und die mehrfachen Artikel zum Fall hätten den öffentlichen Druck auf die Regierung "massiv verstärkt", erinnert sich Ulrich Philipp. 2014 wurde Bjaljazki dann freigelassen. 2020 erhielt er den Right Livelihood Award, weithin als Alternativer Nobelpreis bekannt. "Das macht uns stolz."
Amnesty International ist in mehr als 70 Ländern vertreten
Es war ein klassischer Zeitungsartikel, der vor 60 Jahren eine weltweite Bewegung in Gang setzte. Am 28. Mai 1961 schrieb der britische Anwalt Peter Benenson im "Observer" über die von der Öffentlichkeit vergessenen Gefangenen, deren grundlegende Rechte massiv verletzt werden. Er ermunterte die Leserinnen und Leser, mit Appellschreiben öffentlichen Druck auf die Regierungen auszuüben und von ihnen die Freilassung politischer Gefangener zu fordern. Die Welt reagierte: 30 Zeitungen druckten den Artikel nach, Hunderte Menschen forderten in Briefen an die verantwortlichen Regierungen die Freilassung der politischen Gefangenen.
Damit begann die Geschichte von Amnesty International. Heute ist die Menschenrechtsorganisation in mehr als 70 Ländern vertreten und hat die Unterstützung von mehr als zehn Millionen Menschen. Neben dem anhaltenden Einsatz für zu Unrecht Inhaftierte engagiert sich Amnesty International auch gegen die Todesstrafe, hat die Einrichtung des Internationalen Strafgerichtshofes mit in die Wege geleitet, die Antifolterkonvention vorangetrieben und arbeitet gegen Menschenrechtsverletzungen infolge der Klimakrise an.
Dabei hat sich der Blick geweitet – Kampf gegen Diskriminierung und Rassismus, für das Recht der sexuellen Selbstbestimmung und die Förderung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte. Eine große Herausforderung sind die Geflüchteten – weltweit. Amnesty International setzt sich für ihren Schutz, für faire Asylverfahren und die Entwicklung eines solidarischen Asylsystems in Europa ein.
In Schweinfurt gründete Fritz Zahn 1972 die ai-Gruppe
Auch in Schweinfurt gründete sich eine Bewegung. Fritz Zahn, der frühere Rektor des Celtis-Gymnasiums, rief 1972 mit Schülern die ai-Gruppe ins Leben, die heute von Ulrich Philipp geleitet wird. "Hinschauen und Handeln" heißt ihr Motto. Das bedeutet: Petitionen schreiben, Forderungen stellen, mit Aktionen die Öffentlichkeit auf Schicksale aufmerksam machen und damit Druck auf Unrechtsregierungen ausüben, um "ihre Gefangenen" freizubekommen. Beim letzten, jahrelang von ai Schweinfurt betreuten Fall von zwei in Bahrain inhaftierten Jugendlichen hat sich der Einsatz gelohnt: Jehad Sadeq Aziz Salman und Ebrahim Ahmed Radi al-Moqdad wurden nach acht Jahren Gefängnis vorzeitig freigelassen. Die beiden jungen Männer waren 2013 als 15-Jährige zu zehn Jahren Haft wegen der Teilnahme an einer Demonstration verurteilt worden.
Für wen die lokalen amnesty-Gruppen sich einsetzen, entscheidet die ai-Zentrale in London. Ihr aktueller Auftrag an Schweinfurt: Esmail Abdi. Der Mathematiklehrer und Vorsitzende der Lehrergewerkschaft im Iran verbüßt wegen seiner gewerkschaftlichen Aktivitäten seit November 2016 eine sechsjährige Haftstrafe. Es ist inzwischen der 19. politische Gefangene, für den sich ai Schweinfurt einsetzt.

Seit März vergangenen Jahres werden Unterschriften für eine Petition an das Oberste Gericht in Teheran gesammelt und Appellbriefe geschrieben. "Leider werden offizielle Schreiben an die Regierungsbehörden im Iran nicht zugestellt", verweist Ulrich Philipp auf die schwierige Situation. Die Briefe gehen über eine Sammelstelle von Amnesty International in London an Familienmitglieder, die sie an die iranische Vertretung in der Menschenrechtsorganisation in Genf weiterleiten.
"Es ist wichtig, dass wir uns für politische Gefangene einsetzen", sagt Ulrich Philipp. Die Gruppe mit ihren aktuell acht Aktiven und vielen Unterstützern im Hintergrund schreibt nicht nur Briefe an Regierungen, Könige oder Botschafter, sie organisiert auch Postkartenaktionen. Die handgeschriebenen Solidaritätsbekundungen seien ein großer Trost für die Inhaftierten. "Sie haben die Gewissheit, dass sie nicht vergessen sind." Manchmal bekommen die ai-Mitglieder auch Rückmeldungen von Freigelassenen, die sich für die Unterstützung und Ermutigung bedanken.
So auch damals von Ales Bjaljazki. Gegenüber den für Weißrussland zuständigen Ermittlern von Amnesty International sagte er laut Philipp wörtlich: "Ich möchte ihnen danken, insbesondere für die moralische Unterstützung. Was wirklich einen Unterschied machte, waren die Briefe, die ich von gewöhnlichen Leute bekam."
Information: Die Schweinfurter ai-Gruppe trifft sich jeden dritten Donnerstag eines Monats um 19.30 Uhr im Kultur-Packt-Büro in der Burggasse 2.