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GEROLZHOFEN: Abheben an der Waldesruh

GEROLZHOFEN

Abheben an der Waldesruh

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    Segelflug-Start an der Waldesruh: Zahlreiche neugierige Zuschauer beobachten den Start eines Schulgleiters. Der Mann am Steuerknüppel könnte Robert Wagner sein.
    Segelflug-Start an der Waldesruh: Zahlreiche neugierige Zuschauer beobachten den Start eines Schulgleiters. Der Mann am Steuerknüppel könnte Robert Wagner sein. Foto: Repro: Klaus Vogt

    Die alte, leicht vergilbte Fotografie zeigt eine spektakuläre Szene: Ein Mann sitzt in einem kleinen Segelgleiter an der Kante eines Abhangs und bereitet sich offenbar auf den Start vor. Das Bild mit dem Segelflieger entstand aber nicht, wie man denken könnte, auf der Wasserkuppe oder irgendwo in der Rhön. Nein. Das Fachwerkhaus im Hintergrund ist die „Waldesruh“ bei Gerolzhofen.

    Das Foto ist in einem kleinen Album eingeklebt, das die Gerolzhöferin Maria Gruse dem Stadtmuseum freundlicherweise zum Einscannen leihweise überlassen hatte. Der Schnappschuss ist leider nicht beschriftet und auch Maria Gruse weiß nicht, was es mit dem Bild auf sich hat. Es wurde vor Jahrzehnten wohl noch von ihren Eltern ins Album eingeklebt. Grund genug, der Geschichte des Fotos auf den Grund zu gehen. Und bei der Recherche fügten sich dann viele Puzzleteile zusammen.

    Hochzeit des passionierten Fliegers: Im Jahr 1942 heiraten Robert und Hilde Wagner.
    Hochzeit des passionierten Fliegers: Im Jahr 1942 heiraten Robert und Hilde Wagner. Foto: Foto: Sammlung Spiegel

    Zunächst einmal zum Ort des Geschehens. Der Flugzeugstart fand eindeutig am Steigerwaldtrauf direkt vor der „Waldesruh“ statt, dort, wo später die Terrasse entstand, als das Erholungsheim von Kugelfischer mit der Gaststätte – ab 1951 von August Sabisch und ab 1964 von dessen Sohn Alfons betrieben – gerade am Wochenende ein beliebtes Ausflugziel war. Es existieren alte Postkarten mit der ursprünglichen Außenansicht der „Waldesruh“, als es am Fachwerkbau noch einen Außenbalkon gab. Ein Vergleich des Segelflug-Fotos mit den Ansichtskarten zeigt: Das Haus im Hintergrund ist zweifelsfrei die „Waldesruh“. Im Jahr 1924 geplant und gebaut von dem Gerolzhöfer Bauunternehmer Hans Bachmann, bestand die „Waldesruh“ zunächst aus einer Jugendherberge und dem Gasthaus. Betrieben wurde die Einrichtung zunächst von Hans und Babette Bachmann. Offenbar gab es damals noch nicht die Weinberge am Hang unterhalb des Gebäudes, sonst wäre die Landung des kleinen Segelgleiters mit Problemen verbunden gewesen.

    Auf dem Foto aus dem Album der Familie Gruse ist ein Schulgleiter zu sehen, auf dessen Kufe ein mit Gurten gesicherter Pilot sitzt. Sechs bis acht Jungs, teils in HJ-Uniform, halten hinten das Leitwerk und legen sich zum Teil richtig ins Zeug. An der Spitze des Gleiters sind zwei Seile zu sehen. Alles deutet darauf hin, dass hier ein sogenannter „Gummiseilstart“ fotografiert wurde, das früheste Startverfahren für Segelflugzeuge.

    Die Gummihunde im Einsatz

    Im Online-Lexikon Wikipedia kann man nachlesen, dass der Gummiseilstart erstmals im Jahr 1920 bei einem Segelflugwettbewerb in der Rhön von Studenten der Flugwissenschaftlichen Vereinigung Aachen vorgeführt wurde. Dazu wurde ein etwa drei Zentimeter starkes Gummiseil an einem Haken an der Nase des Flugzeugs eingehängt. An den Enden des dann V-förmig ausgelegten Gummiseils waren zudem normale Seile befestigt, die von zwei Startmannschaften aus jeweils vier bis sechs Personen – den sogenannten „Gummihunden“ – besetzt wurden. Das Flugzeug selbst wurde solange von weiteren Personen hinten festgehalten.

    Idealerweise startet man an einem Hang, da der Flug sonst sehr schnell wieder zu Ende gewesen wäre. Zum Start des Gleiters mussten die beiden Startmannschaften zunächst ihr Seil straffen und dann auf Kommando mit aller Kraft losrennen. Dadurch wurde das Gummiseil gespannt. Sobald die optimale Spannung erreicht war, gab die Haltemannschaft am Heck den Flieger frei. Das Flugzeug wurde nach vorne geschleudert und hob ab. Beim Überfliegen der „Gummihunde“ fiel das Gummiseil schließlich aus dem Haken heraus.

    Ein weiterer Blick auf die alte Fotografie: Am Seitenleitwerk des Gleiters ist über den Tragflächen, wenn man das Bild unter der Lupe betrachtet, der Schriftzug „Schwalbe“ zu erkennen. Recherchen im Internet ergeben, dass es tatsächlich einen Schulgleiter mit dem Namen „Schwalbe“ gegeben hat: Im Jahr 1935 scharte der damalige Regierungsrat Dr. Schwalb in Mellrichstadt (Lkr. Rhön-Grabfeld) junge Flugbegeisterte um sich, um mit wenig Geld einen Schulgleiter zu bauen. Das selbst gebastelte Gerät wurde nach seiner Fertigstellung stolz auf dem Mellrichstädter Marktplatz der Öffentlichkeit präsentiert. Für einen Groschen durfte man sogar auf dem Gleiter Platz nehmen.

    Von der feierlichen Einweihung des Gleiters wurde sogar eine Ansichtskarte herausgegeben. In Anlehnung an seinen Erbauer Dr. Schwalb wurde das Gerät auf den Namen „Schwalbe“ getauft.

    Weil es damals – im Gegensatz zu heute – in Mellrichstadt noch keinen Segelflugplatz gab, nutzten die Pioniere der Lüfte den Flugplatz auf dem Lindenberg nahe Ostheim vor der Rhön, um mit ihrer „Schwalbe“ erste Übungsflüge zu unternehmen. Doch warum sollte ausgerechnet diese „Schwalbe“ von der Rhön an den Steigerwald gekommen sein? Handelt es sich nur um eine zufällige Namensgleichheit? Vermutlich nicht. Denn überraschenderweise gibt es eine Verbindung zwischen Ostheim v. d. Rhön und Gerolzhofen. Erich Stratmann – ein inzwischen 89 Jahre alter pensionierter Lehrer aus Gerolzhofen – war Anfang der 40er Jahre auf dem Ostheimer Lindenberg selbst Flugschüler gewesen. Der gebürtige Würzburger hatte sich freiwillig zur Luftwaffe gemeldet und wurde an der Luftnachrichtenschule im thüringischen Erfurt als Bordfunker ausgebildet. Als Mitglied der Flieger-HJ nahm er auf dem Ostheimer Flugplatz mit einer Gruppe von rund 20 jungen Männern an einem Grundkurs im Fliegen teil.

    „Ja, das ist ein Schulgleiter“, sagt Erich Stratmann sofort, als er das alte Bild aus dem Gruse-Album sieht. „Mit so einem ähnlichen Ding sind wir damals geflogen.“ Das sei damals eine durchaus ernsthafte Sache gewesen, erinnert er sich. „Und ungefährlich war es auch nicht.“ Man konnte mit dem kleinen Flieger, der eine Spannweite zwischen acht und zehn Metern hatte, maximal 30 Sekunden in der Luft bleiben. „Nach dem Start mussten wir Flugschüler den Steuerknüppel ganz, ganz langsam noch vorne drücken und sind so dem Boden entgegengeglitten.“ Es ging meist nur geradeaus. „Kurven konnten wir mit dem Gleiter nicht fliegen.“

    Nun die Überraschung. Der Fluglehrer des jungen Stratmann aus der Flieger-HJ auf dem Ostheimer Flugplatz war ein Gerolzhöfer: Robert Wagner, dessen Vater an der Frankenwinheimer Straße gleich nach der Bahnschiene unter der Firmierung Wagner & Herbert eine Maschinenfabrik für landwirtschaftliche Geräte betrieb. „Das war ein ganz strenger“, kann sich Stratmann noch gut an seinen Ausbilder erinnern. „Und er war der erste Gerolzhöfer, den ich kennenlernte."

    Erich Stratmann kam im Jahr 1948 nach englischer Kriegsgefangenschaft später selbst nach Gerolzhofen, wo seine Eltern, die am 16. März 1945 in Würzburg ausgebombt worden waren, eine neue Bleibe gefunden hatten.

    Ein zweiter Gerolzhöfer

    Auf dem Flugplatz in Ostheim hatte Stratmann übrigens noch einen zweiten Gerolzhöfer Piloten kennengelernt: Walter Merklein, einen versierten, mehrfach ausgezeichneten Segelflieger. Merklein arbeitete später im Büro von Josef Teutsch im Verlag Franz Teutsch in der Weiße-Turm-Straße, ehe er als Nachfolger von Rudolf Hoch für viele Jahre den Posten des Redaktionsleiters des Steigerwald-Boten übernahm. Auch Maria Gruse, die das alte Foto zur Verfügung gestellt hat, arbeitete viele Jahre im Verlag Teutsch. Segelflieger Walter Merklein wurde später sogar ihr Schwager: Maria Gruse ist eines von sieben Kindern des Gerolzhöfer Bauunternehmers Hans Rosentritt. Ihre Schwester Margarete heiratete Walter Merklein, ihr Bruder Leonhard sen. führte das Baugeschäft am Schießwasen.

    Doch wie könnte die Mellrichstädter „Schwalbe“ von Ostheim nach Gerolzhofen gekommen sein? Die entscheidende Person in dem Puzzle ist Stratmanns Fluglehrer Robert Wagner.

    Wichtige Recherche-Hinweise kann Kreisarchivpfleger Hilmar Spiegel aus Zeilitzheim geben, der die Geschichte des Fliegerhorsts Gerolzhofen-Herleshof intensiv erforscht hat. Anfang 1936 begann der Reichsarbeitsdienst (RAD) mit einem ersten Vorauskommando, im Marienhain-Wald in freigeschlagenen Lichtungen erste Baracken für den Fliegerhorst zu errichten und die Landebahn zu präparieren. Die Luftwaffe nutzt fortan Herleshof als Erprobungsplatz für die neu entwickelten Maschinen HE 123 und JU 88. Während des Angriffs auf Frankreich starten von Herleshof aus dann die JU 87 zu Kampfeinsätzen gen Westen. Als die Front zu weit entfernt ist, wird Herleshof wieder Übungsplatz der Luftwaffe, die dort auf Propellermaschinen ausbildet. Gleichzeitig wird über die Flieger-HJ auch die Pilotenausbildung auf kleinen Gleitern und Segelflugzeugen angeboten. Dort mit dabei: Robert Wagner. Der Gerolzhöfer hat sein Tätigkeitsfeld von Ostheim v. d. Rhön in Richtung Heimat verlegt. Der Fluglehrer im Nationalsozialistischen Fliegerkorps (NSFK) fungiert in Herleshof als Lehrgangsleiter.

    Er schult junge Männer auf Segel- und später auch auf Motorflugzeugen. Die Flugbucheinträge zeichnet er mit dem Zusatz „Fluglehrer und Sachverständiger“ ab.

    Auf seinem Hochzeitsbild anno 1942 lässt sich Wagner in einer mit zwei Orden geschmückten Ausgehuniform des NSFK ablichten. Am Kragenspiegel befinden sich drei silberne Sterne, was den Rang eines Sturmführers darstellt. Später wurde Wagner zum Obersturmführer ernannt. Der eine Orden hat drei Flugspannen in Silber und ist das so genannte C-Abzeichen für ausgezeichnete Segelflugleistungen. Dafür erforderlich waren ein fünfstündiger Flug, ein Flug in mindestens 1000 Meter über Grund und ein Streckenflug mit 50 Flugkilometern. Der zweite Orden ist das Motorflugabzeichen.

    Vieles deutet nun darauf hin, dass Robert Wagner für eine Flugvorführung vor großem Publikum die „Schwalbe“ aus Ostheim in die Region Gerolzhofen transportieren ließ. War es eine einmalige Werbeveranstaltung, mit der Nachwuchs für die Flieger-HJ rekrutiert werden sollte? Als einzigen segelflugtauglichen Startplatz weit und breit wählte man die Geländekante vor der „Waldesruh“.

    Unterstützt wurde das Vorhaben sicher vom Betreiber der „Waldesruh“ Hans Bachmann, ebenfalls ein überzeugter Nationalsozialist. Der Mann, der vorne auf dem Gleiter sitzt, hat deutliche Ähnlichkeit mit Robert Wagner, wie wir ihn auf dem Hochzeitsbild sehen. Offenbar ist er selbst geflogen.

    Unter den interessierten Zuschauern des Jungfernflugs könnte sich auch Bauunternehmer Hans Rosentritt, der Vater von Maria Gruse, befunden haben. Vielleicht hatte er gar seinen Fotoapparat dabei? Und das wäre dann die Entstehungsgeschichte des Fotos, das ein Schlaglicht wirft auf die bislang unbekannte Gerolzhöfer Luftfahrtgeschichte.

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