Wir treffen uns auf halbem Weg. Im Café Museum in Duisburg, in dem an diesem Vormittag noch nicht so viele Leute sitzen. Und das ist gut so, denn bald wird etwas geschehen, was die Gäste kurzzeitig verschreckt.
Nein, nicht der dramatische Sopran des einstigen Meininger Publikumslieblings Wiebke Göetjes. Dessen Wohlklang könnte Säle füllen – und füllt sie gelegentlich auch. Die Künstlerin – noch in der üppigen Figur, die wir aus ihrer Meininger Zeit kennen –, die Künstlerin wird gleich eine Szene aus dem Meininger Intendanzzimmer nachspielen, die ihre Karriere nachhaltig beeinflusste, damals im Herbst 1998.
Furchtbar laute Szene
Und diese Szene wird furchtbar laut werden. Kein Wunder bei einer Stimme, in der noch voller Inbrunst Brünhilde, Aida, Elisabeth, Isolde, Senta und Elektra wohnen.
Wir treffen uns auf halbem Weg, weil Wiebke Göetjes im Inselörtchen Marken in der Zuiderzee lebt. Allerdings ist das ein bisschen zu weit entfernt für eine Tagesreise. So sitzen wir also im nicht ganz so idyllischen Duisburg und sprechen über ihre Meininger Zeit von 1995 bis 1999. Damals hat sie ihre glücklichsten Jahre auf der Bühne erlebt, hat große Rollen gesungen, war vom Theater entzückt, von diesem eigenwilligen Intendanten Burkhardt, von Gastregisseur Peter Konwitschny, der sie gleich bei ihrem Meiningen-Debüt als Aida besetzte.
Milieu der Geborgenheit
Sie war entzückt von ihrem Publikum – überhaupt von diesem Milieu der Geborgenheit und Überschaubarkeit eines Ortes, in dem das Theater vielen Menschen aus Thüringen, Franken und Hessen zur Herzensangelegenheit wurde. Sie war so angetan, dass sie ihre holländischen Studienfreunde, den Tenor Frank van Aken und den Bariton Nanco de Vries für Meiningen erwärmen konnte. Ulrich Burkhardt nannte Wiebke Göetjes scherzhaft „die Verrückte aus Amsterdam“ und die drei zusammen wechselweise „Matjes-Mafia“ und „Tulpentrio“.
Schockiert von Werner Schneyder
Es war eine glückliche Zeit. Man saß im „Sächser“ oder im Henneberger Haus – Regisseure, Künstler, Publikum, Passanten – und redete über Gott, die Welt, die große Oper und das kleine Meiningen. Auch Gastregisseur Werner Schneyder schloss sich während der Probenwochen für „Das weite Land“ im Frühjahr 1998 dem vertrauten Zirkel an, schwärmte, erzählte und war mit allen gut Freund, auch mit Wiebke Göetjes. Und dann war sie – wie viele andere Kollegen auch – schockiert von dem, was sie in Schneyders Buch „Meiningen oder Die Liebe und das Theater“ über sich lesen musste:
„Fidelio“ in Meiningen. „Der lieben blonden Sopranistin wegen bin ich hingegangen, obwohl ich mir schon im Lokal nur schwer ausmalen konnte, wie diese dicke Dame eine Hosenrolle darstellen sollte. Sie stellte dar. In einem Kostüm von derartiger Plumpheit, dass mit Leonores Auftritt der Vorhang hätte fallen müssen. Diese Frau sang berührend. Eine Stimme, wie man sie an größeren Häusern nicht oft findet. Aber sie wird die Karriere nicht machen, von der sie und die Bewunderer ihrer Stimme träumen.
Nur hier, nur an einem kleinen Theater, ist man noch bereit, der schönen, aber nicht außerordentlichen Stimme wegen über die Optik hinwegzusehen.“
Depressiv ohne Vorwarnung
Wiebke Göetjes wurde depressiv. „Das geschah alles ohne Vorwarnung. Schließlich hatten wir ja im Henneberger Haus miteinander eine tolle Zeit erlebt. Warum hat er mir das nicht dort gesagt?“ Die Sängerin fing sich wieder, aber der Verweis auf die Figur als Karrierekiller ließ sie nicht mehr los. Ihre Laufbahn hatte in den Niederlanden mit einer Rolle begonnen, für die sie zwanzig Kilo abnehmen musste. Innerhalb von zwei Jahren spielte sie in Scheveningen 600-mal die Primadonna Carlotta im„Phantom der Oper“.
Zu einer Zeit, als auf den Bühnen immer noch die gewichtige Montserrat Caballé als Verkörperung des dramatischen Soprans galt, waren die Körpermaße auch in Meiningen kein Thema. Erst als die grazile Schlankheit der frühen Netrebko medienwirksam in die Welt gesetzt war, wurde schlank-schlank-schlank allgemein gültige Norm, auch für dramatische Frauenfiguren auf der Opernbühne.
Ärger mit der neuen Intendantin
Und dann kam die international erfolgreiche Opernregisseurin Christine Mielitz als neue Intendantin nach Meiningen. Man muss nicht lange überlegen, welchen Typus sie bevorzugte. Mielitz galt als eiserne Lady, hochgeachtet und ebenso gefürchtet wegen ihres rigiden Umgangs mit den Leuten am Theater. Wiebke Göetjes wollte mit Mielitz arbeiten – und offensichtlich hatte auch die neue Intendantin Interesse an ihr. Aber. – Und jetzt kommt die Szene im Intendanzzimmer, die Wiebke Göetjes nachspielt, und die hier leider nicht authentisch wiedergegeben werden kann, weil sonst die ganze Seite wackeln würde, wie die Fensterscheiben im Lokal.
Wie die Sängerin die Situation schildert, begann Mielitz das Gespräch ganz freundlich und leise mit einem Kompliment: „... eigentlich sind Sie eine sehr schöne Frau ...“ Plötzlich jedoch brüllte sie die Sopranistin an, als würde die Welt untergehen: „ABER EIN PAAR PFUNDE MÜSSEN RUNTER. AUF DER BÜHNE SIND SIE SCHRECKLICH.“ Um danach sofort wieder schmeichlerisch und leise anzufügen: „Aber privat sind Sie eine Sen-sa-tion.“
Wiebke Göetjes war schockiert. „Ich muss Diät machen!“ Und mein zweiter Gedanke: „Nee. Ich glaub, ich muss abhauen, bevor sie mich köpft. Hätte sie ihr Anliegen auf freundliche Art vermittelt, hätte ich mich darauf einlassen können. Aber so? Ich lass mich nicht durch Zuckerbrot und Peitsche seelisch kaputt machen.“
Das Interview in der Lokalzeitung
Das Ende ihrer Meininger Karriere war aber erst besiegelt, als sie der Lokalzeitung ein Interview gab, in dem sie den Vorfall mit Mielitz erwähnte. Im Sommer davor hatte sie der Zeitung noch erzählt, dass sie nicht gekommen sei, um wieder abzuhauen, „auch wenn ich gerne an der Met singen würde“. Göetjes wurde abermals zur Intendantin zitiert:
„Wenn Sie die Aussage nicht zurücknehmen, mache ich Ihre Karriere kaputt.“
Ab diesem Zeitpunkt häuften sich Ereignisse, die die Sängerin nicht dem Zufall zuschreiben mag. Überall, wo sie sich bewarb, bekam sie Absagen oder hörte gar nichts mehr, obwohl die Leute im ersten Augenblick sehr positiv reagierten. Da sie für ihre Termine Urlaubsscheine ausfüllen musste, wusste man am Theater, wo sie sich befand. Ein Kenner aus dem Haus: „Das ist doch klar. Da wird hinterhertelefoniert.“ Der Verdacht erhärtete sich, als Wiebke Göetjes einen Urlaubsschein für Berlin ausfüllte, sich aber am Opernhaus Stuttgart bewarb, dem Haus, das im Jahr 2000 zum Opernhaus des Jahres gewählt wurde, nicht zuletzt wegen der legendären Ring-Inszenierung. Und siehe da: Sie bekam einen Stückvertrag als Walküre Ortlinde in der Inszenierung von Christoph Nel.
Der letzte Auftritt in Meiningen
Einen bemerkenswerten Auftritt in Meiningen hatte sie noch. Es ist ein ehernes Gesetz am Theater, dass man einem scheidenden Ensemblemitglied eine letzte gute Fachpartie bietet, mit der man sich bei den Agenturen bewerben kann. Wiebke Göetjes sang die Dolly in Wolf-Ferraris Oper „Sly“.
Die Intendantin ließ sie, nach einigen versuchten Schikanen in der Probenzeit, allerdings nur in der Premiere auftreten: „Voller Überzeugung und Inbrunst habe ich den Part gesungen. Meine letzten Worte waren „Seid verflucht!“ Auf dem hohen C. Das habe ich in den Saal geschleudert.“
Man könnte die Reihe eigenartiger Ereignisse fortsetzen, denen die Sängerin nach dem Bruch mit Mielitz ausgesetzt war. Während des Gesprächs kommen Wiebke Göetjes immer wieder die Tränen. In einem Augenblick hadert sie mit ihrem Schicksal, glaubt, sie hätte damals diplomatischer reagieren können, und versucht sich sogar ins Gemüt der Intendantin zu versetzen. Im nächsten Moment aber weiß sie: „Ich wollte mich nicht verbiegen lassen.“
Um den Nachwuchs bemüht
Trotz der Tatsache, dass sie beileibe nicht als ewig Leidtragende erscheint, spürt man ihr Hin- und Hergerissensein. Einerseits rumort dieses „Heilige Blut des Singen-Müssens“ in ihr, das die 55-Jährige immer wieder auf die Bühne treibt und mit dem alles Weh und Ach von ihr fällt, wenn sie in ihre Rollen eintaucht. Andererseits widmet sie sich seit 2007 in den Niederlanden mit unorthodoxen und innovativen Ideen in ihrem Opernstudio Hojotoho der sängerischen Nachwuchsförderung, für Profis und für Laien.
Im Lauf des Gesprächs bekommt man eine Ahnung davon, wie dünn die Luft dort oben in den Sphären der hehren Kultur sein kann. Selbst dort, wo Meisterwerke geschaffen werden, von denen die Welt spricht, selbst dort, wo Moral als höchstes Gut zelebriert wird. Zwischen die ernüchternde Schilderung solcher Vorfälle drängt sich während des Gesprächs immer wieder etwas Fröhliches nach vorne: die Liebe der Künstlerin zum Meininger Theater. So hat sich das „Tulpentrio“ 2004 an einem umjubelten Benefizkonzert für das Haus beteiligt. Und vor einem Jahr gab Wiebke Göetjes einen Sommerkurs an der Meininger Musikschule.
Freundschaft mit Ulrich Burkhardt
Mit Ulrich Burkhardt, dem ersten Intendanten nach der Wende, verband sie eine ganz besondere Freundschaft. Kurz vor der Sommerpause 1997 und kurz vor seinem Unfalltod am 30. August hatten sie sich noch unterhalten: „Für ihn stand eine schwierige Entscheidung an. Ich weiß nicht, was ich machen soll“, gestand er mir. Ihm war die Generalintendanz der Häuser in Weimar und Erfurt angeboten worden. „Wenn ich dorthin gehe, kann ich nicht mehr das machen, was ich machen möchte. Und das will ich nicht. Vielleicht zieh' ich nach Griechenland und schreib ein Buch. Oder ich fahr gegen einen Baum.“
In der Trauerfeier gesungen
„Das hat er mir im Juni gesagt. Und dann kam ich Ende August wieder und er war tot. Es war wohl ein Unfall. Aber ich hab' da so meine Zweifel.“ – Ulrich Burkhardts Tod. Plötzlich. Unerwartet. Für alle, die ihn kannten, achteten und liebten, ein Schock. „Auf der Trauerfeier im Theater habe ich 'Im Abendrot' gesungen, das letzte der 'Vier letzten Lieder' von Richard Strauss. 'Dass wir uns nicht verirren / in dieser Einsamkeit ...' Das war das Schwierigste, das ich in meinem Leben gemacht habe. Wie, das weiß ich nicht mehr. Ich weiß nur, dass ich es überstanden habe und erst in der Kulisse anfing zu zittern.“
Die Frage am Ende des Gesprächs erübrigt sich fast: „Kommen Sie wieder?“ – „Na klar komme ich wieder.“ Intendant Ansgar Haag hatte ihr im vergangenen Jahr bekundet, er würde sie gerne in Meiningen singen hören. Ihr Traum: einmal noch die Elisabeth im Tannhäuser auf der Wartburg singen zu dürfen.
Davon abgesehen: Wie wär?s, wenn sie als wagemutiger holländischer Freigeist mit ihren jungen Hojotohos die Oper auf allen unmöglichen und möglichen Meininger Bühnen salonfähig machen würde? Auf der Straße, in den Parks, in Altersheimen, in Bahnhofssälen und in den heiligen Hallen.