Das derzeit in München stattfindende Oktoberfest und das damit einst auf der Wiesn noch jährlich einhergehende Zentral-Landwirtschaftsfest müssen auf den städtischen Bullenwärter Sebastian Bätz aus Gerolzhofen eine besondere Anziehungskraft ausgeübt haben. Immer wieder zieht es ihn trotz der strapaziösen Anreise im Güterwaggon mit den Prachtexemplaren der städtischen Bullenzuchtstation dorthin.
Um die Vorzeigebullen bei der großen Körung der Jury vorzuführen, wirft sich Bätz besonders in Schale. Zopfmuster-Wadenstrümpfe und gestickte Hosenträger verleihen der unterfränkischen Tracht eine besondere Note und Aufmerksamkeit.
Vermutlich überzeugen im Jahr 1904 beide die Juroren, der fesche Bullenwärter und seine Prachtbullen. Gerolzhofen hat die beeindruckendsten Kaliber vorgeführt. Im ersten Überschwang und Hochgefühl des Erfolges lässt Sebastian Bätz an den heimischen Stadtmagistrat in amüsanter Schlicht- und Knappheit telegrafieren: „Gerolzhöfer größte Ochsen, erster Preis.“
Die von Sebastian Bätz auf dem Münchner Post- und Telegrafenamt abgesetzte legendäre Kurznachricht ziert lange mit dem Bild von ihm und dem siegreichen Stier die Wand in der Rüstkammer des Alten Rathauses am Treppenaufgang zum Museum. Inzwischen wird das gerahmte Bild im Stadtarchiv verwahrt.

Man kann sich gut vorstellen, wie Sebastian Bätz 1904 aus München ins bäuerlich geprägte Heimatstädtchen als gefeierter Held zurückkehrte. Er dürfte dem ihm zujubelnden Empfangskomitee schon bei seiner Ankunft auf dem Bahnsteig mit stolzgeschwellter Brust die ergatterten seidenen Siegesschleifen sowie die erhaltene goldene Taschenuhr präsentiert haben, nachdem der Zug auf den Gleisen zum Stillstand kam.
Die von ihm seinerzeit getragenen Wadenstrümpfe und die gestickten Hosenträger existieren noch. Zuletzt hat sie Ingrid Unger seitens der Familie in Ehren gehalten. Mittlerweile hat sie sie in die Obhut des Stadtmuseums gegeben.
Sebastian Bätz ist Ingrid Ungers Urgroßvater. Von ihm besitzt sie verschiedene Bilder, die ihn zum einen im Kreise seiner Familie, sowie zum anderen als Bullenwärter zeigen. Ein Bild trägt die Aufschrift: „Musterzuchtstation Gerolzhofen 1887“.
Dann gibt es noch ein Ehrendiplom. Dieses hat ihr „Uri“, wie Ingrid Unger ihn liebevoll nennt, 1909 ebenfalls auf dem Zentrallandwirtschaftsfest in München in Form einer Urkunde samt „kleiner silberner Vereinsgedenkmünze“ vom Landwirtschaftlichen Verein in Bayern erhalten. Anlass war seine fünfzehnjährige Dienstzeit.
1904 dürfte Sebastian Bätz nach dem großen Prämierungserfolg auf dem Zentrallandwirtschaftsfest die später gerahmte Gaudi-Postkarte mit in die Heimatstadt gebracht haben.
Der Gruß vom Oktoberfest
Auf dem „Gruß vom Oktoberfest“ sind ein preisgekrönter Siegerbulle mit seinem unverkennbar freudetrunkenen Führer zu sehen, dazu im Hintergrund Schaustellerbetriebe wie der Chinesische Boxer, die Riesin Ella, ein Kettenkarussell oder das Fotografiezelt. Dazu der orthografisch nicht ganz einwandfreie Text: „Mein Ochs bekam den ersten Preis. / Hab?s kaum qewagt zu hoffen. / Geheißen hat?s, ich hät mit Dem. / Mich selber übertroffen.“
Bereits im Jahr 1900 waren die drei zur „Landwirthschaftlichen Ausstellung“ nach München transportierten Bullen der städtischen Zuchtstation mit einem 1., 2. und 3. Preis hoch dekoriert worden.
Der Steigerwald-Bote als Gerolzhöfer Heimatzeitung vermeldet weiterhin: „Die beiden Wärter in ihrer unterfränkischen Tracht wurden von Seiner königlichen Hoheit dem Prinzregenten mit besonderem Interesse wahrgenommen.“

Bei Luitpold von Bayern dürften dabei nicht zuletzt heimatliche Gefühle aufgekommen sein, denn er war 1821 in der Würzburger Residenz als fünftes Kind von König Ludwig I. von Bayern und Prinzessin Therese von Sachsen-Hildburghausen geboren worden. Nach ihr ist die Theresienwiese, die Wiesn, benannt.
Offenbar befeuert von den „größten Ochsen“ 1904 in München, wird 1906 aus der Zuchtstation an der Ecke Bahnhofstraße/Dreimühlenstraße (heute befindet sich hier das städtische Jugendhaus) ein Prachtbulle – „welcher schon auf verschiedenen Ausstellungen zum Teil mit ersten Preisen bewertet wurde“ – auf dem nahen Bahnhof zur deutschen Landwirtschafts-Ausstellung in Berlin verladen. Es dürfte sich um den Siegerbullen von 1904 in München gehandelt haben.
Überführt wird das „selten schöne Tier“ von niemand anderem als Sebastian Bätz selbst. Der kolossale Bulle wiegt dem damaligen Zeitungsartikel zufolge 23 Zentner und 50 Pfund.

Ingrid Unger spricht nicht nur deshalb voller Hochachtung von ihrem Urgroßvater. Das Ein- und Ausladen der Schwergewichte auf dem Bahnhof als auch ihr Weitertransport seien eine absolute Höchstleistung gewesen.
In der heutigen Zeit wäre das ohne große Technik und aufwändige Planung nicht mehr zu schaffen, was „die Altmeister und Macher damals schon vollbracht haben“, betont Ingrid Unger voller Ehrfurcht.
Vom Bullen im Stall erdrückt
Der Tod ihres Urgroßvaters birgt eine doppelte Tragik in sich. Der am 30. August 1858 in Hummelmarter geborene Betreuer der Bullenzuchtstation, der zum Lebensunterhalt zusammen mit seiner Frau Maria, geborene Schneider, zugleich den Pflasterzoll in dem Wohnhaus der Zuchtstation für die Stadt am westlichen Stadteingang erhebt, wird im Stall ausgerechnet von einem der von ihm betreuten Bullen erdrückt. Sebastian Bätz wird 53 Jahre alt.
Doppelt schlimm für die Witwe: Weil es sich um eine Dienstwohnung in der Zuchtstation handelt, muss sie diese mit ihren Kindern räumen. Ein neues Zuhause finden sie in der Frankenwinheimer Straße 15, dem heutigen Wohnhaus von Ingrid und Edmund Unger.
Das Häuschen steht ursprünglich als Bürogebäude des Steinwerks und Steinmetzbetriebes Vetter (Eltmann/Gerolzhofen) westlich der Bahnlinie auf dem späteren Gelände der BayWa. 1912 wird das Haus – wie heute Gebäude fürs Freilandmuseen – abgetragen und einige Hundert Meter weiter stadtauswärts wieder fein säuberlich aufgebaut.
Pflasterzoll hilft über die Runden
Hier nimmt zuletzt ihre Urgroßmutter den Pflasterzoll als Vorgänger der heutigen Maut ein, um finanziell ohne Ernährer über die Runden zu kommen. Die Pflasterzoll-Einhebungsstelle in der Frankenwinheimer Straße gilt als die lukrativste Einnahmequelle an den vier Einfallstraßen. Maria Bätz stirbt 1943.
Der von einem seiner Bullen-Schützlinge erdrückte Sebastian Bätz wird als Bullenwärter und Betreuer der Zuchtstation von Michael Radler und Alfred Herbig abgelöst. In der Zuchtstation stehen damals nicht nur Zucht-Stiere, sondern auch Gemeinde-Eber und ein Samen-Bock zum Decken der Muttertiere bereit, zunächst unter der Regie des Bürgerspitals, ab 1853 unter der der Stadt.
Die künstliche Besamung besiegelt schließlich das langsame Ende der 1955 nochmals in größerem Stil umgebauten Zuchtstation, die in Sebastian Bätz ihren bekanntesten und erfolgreichsten Bullenwärter hatte.