Aufs Brot kommt keine Nuss-Nugat-Creme. Stattdessen gibt es eingekochte Marmelade von Oma. Lebensmittel hat Sabine S. bei der Tafel am Schweinfurter Stadtteil Bergl nur einmal geholt. Dann nie wieder. „Das war zu peinlich“, sagt sie. Nur mit Überwindung hat sie sich auf ein Gespräch mit dieser Redaktion eingelassen. Sabine S. ist nicht ihr echter Name. Auch Alter und Wohnort will sie nicht im Artikel lesen. Arm will niemand sein in Deutschland, die Scham ist zu groß und Anonymität ein wertvolles Gut.
„Ich möchte nicht, dass er ausgegrenzt wird.“
Sabine S., Alleinerziehende Mutter
Und doch: Sabine S. fühlt sich „arm“, vom Wohlstand in Deutschland hat sie nicht viel. Sie ist eine von bayernweit knapp 77 000 Alleinerziehenden, die Hartz-IV beziehen. Ihr Sohn Paul (auch dieser Name ist geändert) ist sieben Jahre alt. Kinder wie Paul haben Schweinfurt Mitte September überregionale Aufmerksamkeit verschafft: Mehr als jeder fünfte Unter-18-Jährige (21,9 Prozent) lebt hier in einem Haushalt, der Unterstützung vom Staat bekommt. Damit ist Schweinfurt bayernweit negative Spitze. Das hat eine Studie der Bertelsmann-Stiftung ergeben.
Statistiken gibt es viele. Doch alle malen ein ähnliches Bild: 21,6 Prozent der Unter-16-Jährigen leben auch laut Sozialbericht 2015 der Stadt Schweinfurt im Hartz-IV-Leistungsbezug. Oder diese: 23,8 Prozent der Kindergartenplätze wurden laut Jugendhilfeplan 2014 „aus sozialen Gründen“ bezuschusst.
Der Chef der Schweinfurt Diakonie, Jochen Keßler-Rosa, warnt dennoch davor, „auf die Zahlen zu starren“, es gelte weder zu relativieren noch zu skandalisieren. Arme habe es in Schweinfurt wie anderswo immer gegeben. Schon 2011 hatte Schweinfurt bayernweit zu den Städten mit der größten Kinderarmut gehört. Der Sozialdienst der Diakonie berät Hartz-IV-Empfänger, auch Sabine S. gehört dazu.
Sabine S. wohnt mit Paul in einer Gemeinde im Landkreis. Dort liegt die Kinderarmutsquote lediglich bei 4,1 Prozent. Die Frau Mitte 30 mit Hauptschulabschluss und einigen Schulungsmaßnahmen ist Aufstockerin: Weil ihr Verdienst nicht ausreicht, bekommt sie vom Jobcenter den Rest für das, was im Amtsjargon Existenzminimum heißt.
„Ich will Paul ein Vorbild sein“, sagt sie. Ihr Sohn soll sehen, dass Arbeit sich dennoch lohnt. Sie arbeitet, obwohl am Monatsende nur etwas mehr herausspringt als bei arbeitslosen Eltern. Je nach Arbeitspensum verdient sie bei rund 20 Stunden pro Woche netto rund 600 Euro im Monat. Ist es mehr, muss sie am Jahresende Geld ans Amt zurückzahlen.
Der Bedarf von Paul und seiner Mutter berechnet sich nach Tabellen: Der Regelsatz sieht für eine Alleinerziehende mit Kind 674 Euro vor, für Miete und Heizung im Landkreis 398 Euro. Von den 1072 Euro zieht das Jobcenter ihr Einkommen ab, ohne den Versicherungsfreibetrag (rund 30 Euro) und einen vom Verdienst abhängigen Freibetrag (rund 100 Euro). Mit dem Kindergeld und Alleinerziehenden-Zuschlag haben die beiden etwa 650 Euro für den täglichen Bedarf. Bis vor einem Jahr gab es noch Unterhaltsvorschuss, weil sich Pauls Vater nicht kümmert. Nach sechs Bezugsjahren fällt der jedoch weg.
„Ich versuche, monatlich 50 Euro zurückzulegen“, sagt Sabine S. Falls die Waschmaschine kaputt geht oder der gebrauchte Kleinwagen streikt. Auf den ist sie für die Arbeit angewiesen.
Paul geht in die zweite Klasse, fühlt sich wohl dort. Vielleicht kann Paul einmal studieren. Seine Mutter würde es sich wünschen. Zum Schuljahresanfang kaufte sie nach vorgegebener Liste ein: Hefte, Stifte und auch zwei Bücher für insgesamt 70 Euro. Ein Theaterbesuch mit der Klasse vor einiger Zeit kostete zwölf Euro. In solchen Situationen heißt es rechnen. „Ich möchte nicht, dass er ausgegrenzt wird“, sagt Sabine S. Mütter sparten zuletzt an ihren Kindern, bestätigt auch Diakonie-Sozialbetreuerin Helmtrud Hartmann. Paul ist Mitglied in zwei Vereinen, die Gebühr für den Sportclub übernimmt immerhin der Opa.
Gemäß dem Bildungs- und Teilhabepaket der Bundesregierung erhalten Hartz-IV-berechtigte Eltern zu Schuljahresbeginn 70 Euro. Und auch die Gebühr für Sportvereine kann bezuschusst werden. Das Problem: „Für derlei Vergünstigungen muss man clever sein – und sich outen“, sagt Keßler-Rosa. Nicht jeder überwindet die Hemmschwelle. Dazu kommt: Für Familien, die nur knapp über dem Hartz-IV-Anspruch landen, fallen solche Angebote ganz weg. „Sie sind die eigentlichen Verlierer“, sagt Matthias Klar, Sprecher der Agentur für Arbeit. „Und wie viele das sind, weiß kein Mensch.“
Kinderarmut – die Risikogruppen In Bayern ist Kinderarmut regional unterschiedlich verteilt. Besonders hoch ist sie in Städten. In Schweinfurt-Stadt leben 21,9 Prozent der Unter-18-Jährigen in Haushalten mit SGB-II-Bezug, das heißt mit Hartz-IV-Einkommen. Nürnberg folgt mit 20,3 Prozent. Auch der Flüchtlingszustrom in die Erstaufnahme spielt vermutlich eine Rolle. Sobald Flüchtlinge anerkannt sind und staatliches Geld beziehen, gehen Familien in die Statistik des Jobcenters ein. Kinder Alleinerziehender haben das höchste Armutsrisiko. Sie machen in Bayern mehr als die Hälfte (54,5 Prozent) unter den Kindern in Haushalten mit SGB-II-Bezug aus. Einmal arm, immer arm? Fast die Hälfte (46,9 Prozent) der Sieben- bis 14-Jährigen in bayerischen Hartz-IV-Haushalten sind drei Jahre oder länger auf staatliche Unterstützung angewiesen. Text: Jha/Quelle: Bertelsmann-Stiftung