Als Andra Marx auf den Spuren ihrer jüdischen Vorfahren durch Deutschland reist und am vergangenen Mittwoch auch Schweinfurt besichtigt, den Geburtsort ihres Vaters, schlägt gerade im 300 Kilometer entfernten Halle der Attentäter zu. Er will in die vollbesetzte Synagoge dort eindringen. Weil das misslingt, erschießt er eine Passantin auf der Straße und einen Handwerker im benachbarten Dönerimbiss. Wie grotesk. Der Judenhass, der den Vater und die Großeltern der 58-jährigen Amerikanerin vor 78 Jahren zur Flucht aus Deutschland getrieben hat, ist plötzlich so nah.
Ein Blick zurück in die Geschichte: Die Vorfahren von Andra Marx waren bedeutende Geschäftsleute in Schweinfurt. Der Bruder ihres Urgroßvaters, Marcus Marx aus Edelfingen bei Bad Mergentheim, gründete 1874 eine Weinhandlung in der Rückertstraße 17, wo sich heute die ADAC-Geschäftsstelle befindet. Er hatte einen Sohn Alfred, der die Firma übernahm. Anfang des 20. Jahrhunderts stieg dann Andras Großvater Max Marx mit seinem Bruder Sigmund ein. Er wohnte im Nachbarhaus Nummer 19 gemeinsam mit seiner Familie, der 1924 geborenen Tochter Suse und dem 1928 auf die Welt gekommenen Helmut, Andras Vater.
Die Weinhandlung florierte von Beginn an. Man hatte sogar einen eigenen Weinberg in Würzburg Am Stein, Weinberge im Rheinland und eine Zweigniederlassung in Wiesbaden. Eine Visitenkarte belegt, dass der Betrieb Königlich Bayerischer Hoflieferant und sogar Hoflieferant des Kronprinzen von Schweden war.
Schwester Suse wurde mit einem Kindertransport nach England in Sicherheit gebracht
Von der Kindheit ihres Vaters in Schweinfurt wusste Andra Marx bislang wenig. Er habe nie viel aus dieser Zeit erzählt, sagt sie. Helmut war ja auch noch ein Kind, als er mit den Eltern im Juni 1941 Nazi-Deutschland verließ. Gerade noch rechtzeitig vor dem im Oktober erlassenen Ausreiseverbot für Juden. Die NS-Regierung begann die "Endlösung" in Angriff zu nehmen. Die vier Jahre ältere Schwester Suse war schon zwei Jahre zuvor, im Mai 1939, mit einem Kindertransport nach England in Sicherheit gebracht worden. Helmuts Ausreisepapiere hatten die NS-Behörden damals nicht anerkannt.

Als Andra Marx 2014 nach dem Tod ihres Vaters, der sich in New York in Harold umbenannt hatte, den Nachlass sortierte, fand sie einen Ordner mit vielen Dokumenten und wusste sofort, das sind Papiere aus Deutschland. "Überall war der Nazi-Stempel drauf." Es waren seine Ausreisepapiere. Sie fand auch einen Stammbaum und erfuhr erstmals, wie weit verzweigt ihre jüdische Verwandtschaft ist und dass alle ihre Wurzeln in Deutschland haben. "Irgendwann war mir klar, ich muss hierher kommen."
Just zu diesem Zeitpunkt traf eine Mail von Elisabeth Böhrer ein. Die gebürtige Schweinfurterin erforscht seit vielen Jahren ehrenamtlich die Geschichte der jüdischen Gemeinden in der Region und begleitet Juden, die auf der Suche nach ihren Wurzeln sind. Für eine Ausstellung über Kindertransporte 2014 in der St.-Johannis-Kirche war sie auf der Suche nach einem historischen Foto. So kam der Kontakt und schließlich der Besuch in Schweinfurt zustande. Die Führung von Andra Marx auf den Spuren ihrer Ahnen war für Elisabeth Böhrer die achte in diesem Jahr in Unterfranken.
Die Amerikanerin, die mit ihrem Ehemann Mark Madonna angereist war, hatte zuvor Bad Mergentheim besucht, in dessen Stadtteil Edelfingen ihr Großvater Max und schon ihr Urgroßvater Hermann geboren worden waren, sowie Eisenach, den Geburtsort ihrer Großmutter Herta, eine geborene Grünbaum. Abschluss der Reise war Berlin, wo die Großeltern mit dem damals elfjährigen Helmut im Oktober 1939 hingezogen waren, um die Ausreise nach New York vorzubereiten.

Was ist das für ein Gefühl, erstmals an dem Ort zu sein, wo der Vater einst zur Schule ging und als Kind gespielt hat? Andra Marx ist nicht so sehr emotional berührt, vielmehr dankbar, durch den Besuch in Schweinfurt das Leben des Vaters besser verstehen zu können. "Ich bin hier, um zu sehen, wo seine Wurzeln sind, welches Leben mein Vater in Deutschland hatte."
Aus ihrer Handtasche holt sie ein kleines Büchlein heraus, ein "Merkbuch für das Leben unseres Kindes". Heute sagt man Babybuch dazu, eine Erinnerung an das erste Lebensjahr des Kindes. Elisabeth Böhrer ist fasziniert. "Das ist etwas ganz Besonderes." Sie übersetzt Andra Marx Seite für Seite. Da steht zum Beispiel, "welche Geschenke unser Kind bekam". Es waren silberne Becher, Besteck, ein "Anzügle" und ein "Klapperle".

Fein säuberlich sind das erste Lachen, der erste Spaziergang notiert. Und dass "Bubi" großen Appetit zeigt, seine Flasche immer leer trinkt. Auch Fotos sind eingeklebt, auf denen der kleine Helmut mit Kinderschwester Käthe, mit "Omama und Opapa", Andras Urgroßeltern, oder mit seiner Schwester Suse zu sehen ist.

Die Beziehung zur Schwester war später nicht sehr eng, weiß Andra Marx. Das lag wohl daran, dass Suse bis Ende des Krieges bei ihren Pflegeeltern in England geblieben war und erst im Dezember 1945 in die Staaten nachkam. Da war sie 21 und schon erwachsen, der Bruder aber erst im Teenageralter.
Die Familie hatte es anfangs schwer in New York. "Sie haben mit Nichts angefangen", weiß Andra Marx. Großvater Max – er starb 1951 – lief als Vertreter von Friseurhandwerkszeug durch New York, und die Großmutter, die keinen Beruf erlernt hatte, arbeitete in einer Fabrik. Helmut ging aufs College, war kurzzeitig in der Army und studierte dann Business-Management. Danach arbeitete er in verschiedenen Firmen, unter anderem in einem Unternehmen, das Restaurants und Geschäfte mit Wein belieferte. Welch' eine schicksalhafte Fügung!
Andra Marx und ihr Ehemann mögen Wein, haben aber noch nie einen Wein aus Deutschland probiert. In Schweinfurt lernten sie jetzt kennen, was ihre Urahnen einst selbst produziert und gehandelt haben: Frankenwein im Bocksbeutel vom Würzburger Stein.