Der 9. November ist wohl einer der zwiespältigsten Tage für Deutschland. Er ist Tag der Wiedervereinigung und des Mauerfalls 1989. Er ist Tag der Novemberrevolution 1918 und des Ende des Kaiserreiches. Und er ist der Tag, an dem das nationalsozialistische Terrorregime in der Reichspogromnacht die jüdische Bevölkerung angriff, ihren Besitz zerstörte. Der öffentlich sichtbare Beginn des Holocausts. "Dieser Tag steht für das dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte", erklärte Julia Stürmer-Hawlitschek, Mitglied der Initiative gegen das Vergessen.
Diese sowie die Schweinfurter SPD gestalten seit vielen Jahren die Gedenkfeier für die jüdischen Opfer der Reichspogromnacht in der Wälzlagerstadt sowie alle Opfer des nationalsozialistischen Terrors am Mahnmal, das vor der im Zweiten Weltkrieg zerstörten früheren Synagoge errichtet wurde. Heute ist dort der Parkplatz der Sparkasse in der Siebenbrückleinsgasse. Auch in diesem Jahr waren wieder zahlreiche Bürgerinnen und Bürger gekommen, rund 75.

Die Sprecherin der Initiative gegen das Vergessen, Johanna Bonengel, rekapitulierte das Geschehen in Schweinfurt in der Reichspogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938, das in ganz Deutschland gleich war, anhand von Zeitzeugenberichten. "Die meisten Schweinfurter haben zugeschaut", auch das sei Teil der bitteren Wahrheit, als die Nazi-Schergen die damals rund 200 jüdischen Mitbürger drangsalierten: "Nur, weil sie Juden waren."
Der Initiative sei es eine Herzensangelegenheit, an die Schicksale jedes einzelnen jüdischen Mitbürgers zu erinnern, ihnen Namen und Gesicht zu geben. "Sie waren unsere Nachbarn, sie lebten unter uns, sie haben dazu gehört", genauso wie die weiteren von den Nazis verfolgten Gruppen wie Sinti und Roma oder behinderte Menschen. "Wir wollen jedem Menschen seine Würde wiedergeben, jedem ein Gesicht geben", so Bonengel.
"Ich sehe noch heute das kleine Mädchen, zitternd unter der Treppe stehend, als die SA alles zertrümmert hat."
Ein älterer Schweinfurter, der die Reichspogromnacht 1938 als Kind miterlebte.
In diesem Zusammenhang erwähnte sie auch das neue Projekt der Initiative gemeinsam mit der Künstlerin Steff Bauer, mitten in den früheren Vierteln, wo die jüdische Bevölkerung lebte, entsprechende Gedenkorte zu schaffen. Beginnen will man am Albrecht-Dürer-Platz. SPD-Kreisvorsitzende Marietta Eder zitierte den Holocaust-Überlebenden Primo Levi: "Es ist geschehen, und folglich kann es wieder geschehen. Darin liegt der Kern dessen, was wir zu sagen haben. Es kann geschehen, überall." In diesem Sinne sei es wichtig, die Erinnerung aufrechtzuerhalten, um aufzuklären, was und warum es damals geschehen konnte, und zu verhindern, dass es in Deutschland wieder passiert.

1933 lebten in Schweinfurt 363 jüdische Mitbürger. 1939 wurden die letzten 77 von ihnen, die nicht flüchten konnten, in Konzentrationslager gebracht, wo alle ermordet wurden. Um zu verstehen, wie sehr diese unschuldigen Opfer vor dem Nationalsozialismus in der Stadt integriert waren, wie und wo sie lebten, welche Geschäfte sie betrieben, aber auch wie schnell die Nazi-Schergen nach der Machtergreifung am 30. Januar 1933 die gesamte Gesellschaft indoktrinierten und ihr Regime etablierten, ist eine Führung zum Thema mit der Initiative gegen das Vergessen sehr aufschlussreich.

Besonders, wenn wie bei der am 9. November von Julia Stürmer-Hawlitschek, auch spontan ein Schweinfurter Zeitzeuge selbst erzählt, wie er 1938 die Reichspogromnacht als Kind erlebte. Der ältere Herr wohnte mit seiner Familie im Zürch. Er schilderte, wie die Nazis aus einem der Häuser, das eine jüdische Familie bewohnte, die Einrichtung zum Fenster heraus schmissen und zerstörten. "Ich sehe noch heute das kleine Mädchen, zitternd unter der Treppe stehend, als die SA alles zertrümmert hat", erzählte der Senior. Seine Mutter habe ihn aus Sorge weitergezogen, "das geht uns nichts an". Aber: "Das, was da passiert ist, kann man nicht einfach aus dem Gedächtnis wegschieben."
Die Veranstaltung der Initiative gegen das Vergessen und der SPD, musikalisch wunderbar umrahmt vom evangelischen Posaunenchor unter Leitung von Wolfhart Berger, war ein würdevolles Gedenken der Opfer des Nationalsozialismus. Schade, dass sich daran nicht auch Oberbürgermeister Sebastian Remelé und die Stadt offiziell beteiligen.