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SCHWEINFURT: Stalins lange Schatten: Russlanddeutsche Zeitzeugen erinnern sich

SCHWEINFURT

Stalins lange Schatten: Russlanddeutsche Zeitzeugen erinnern sich

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    „Wir sind angekommen in Deutschland“, sagt Anna Ebel, Frau des Malers Johannes Ebel, dessen Landschaftsbilder Teil der Ausstellung „Deutsche aus Russland“ sind. „Sind wir angenommen?“ fragt die russlanddeutsche Schweinfurterin in der Gesprächsrunde im Pfarrsaal von Christkönig. Der Bericht von Zeitzeugen, die sich an die Repressalien in der Sowjetunion erinnern, soll Verständnis wecken für andere Mentalitäten. Für eigenständige Lebens- und Leidensgeschichten.

    Michael Pfrang, Pfarrbeauftragter von St. Josef, moderiert in kleiner Runde. Leopold Kinzel erzählt, der seit Anfang der 90er in Schweinfurt lebt. Geboren wurde der musikalische Wolgadeutsche am 19. August 1992 in Neu-Bauer im Kanton Eckheim an der Wolga. 1940, nach Abschluss der Schule, wurde er zum Militärdienst nach Uljanowsk einberufen: „Ich sollte Panzeroffizier werden“. Mit ihm waren noch drei weitere Deutsche auf der Militärschule. Mit Hitlers Angriff auf die Sowjetunion war deren Karriere beendet: „Genossen Kursanten, Ihr werdet entlassen aus der Armee“, beschied man den Offiziersanwärtern. „Ich war froh“, sagt der 91-Jährige mit leiser, aber fester Stimme: „Mir hat das Militärische nicht so gefallen.“

    Deportation nach Sibirien

    Das Gefühl neuer Freiheit währte nicht lange: Zuhause war kein Wolgadeutscher mehr im Ort, das Elternhaus verlassen. Im Kantonszentrum wurde ihm lapidar mitgeteilt, dass auch seine Familie gen Sibirien deportiert worden sei, gemäß Stalins Erlass vom 28. August: offiziell aus Furcht, die Wolgadeutschen könnten sich mit den Spionen und Saboteuren des Aggressors verbünden. Tatsächlich war Kinzels Familie von Anfang an, seit 1765, in Russland ansässig.

    Zusammen mit dem Russlanddeutschen Wilhelm Hahn und einem deutschen Lehrer begann die Suche nach den verschwundenen Angehörigen: „Sibirien ist groß.“ Die Heimatlosen irrten als Tramps auf Güterzügen umher, buchstäblich schwarz auf Kohle- oder auf Holzwaggons. Im Oktober fand er die Familie dann am Altai wieder, bevor es in die sogenannte „Trudarmee“ ging, zur Zwangsarbeit. Mit vorgehaltener Waffe wurde er in die Taiga verfrachtet, die letzten zwei Tage legte er zu Fuß zurück, geriet in ein westsibirisches Lager. Dort hieß es für die Volksfeinde Bäume fällen, im Wald kamen erstaunte Chanten und Mansen vorbei: „Es ist Krieg? Mit wem?“ fragten die Ureinwohner, nomadisierende Rentierhirten, arglos.

    Insgesamt habe er sich sieben Jahre, acht Monate und zwanzig Tage in Sträflingshaft befunden, erinnert sich der Deportierte: „Ich will nicht sagen, im Konzentrationslager.“ Die Leute sind vor Hunger gestorben, sagt er. Es ging um schlichte Versklavung ganzer Völker, nicht ihre systematische Vernichtung, aber tausendfaches Massensterben wurde wie Materialverbrauch in Kauf genommen. In der Sommerhitze war die Taiga schwarz von Moskitos, im mörderischen Winter starben die Unterernährten wie die Fliegen.

    Leopold Kinzel erinnert sich, wie ein Schlitten die Entkräfteten aufgesammelt hat, die Toten wurden in einer Scheune gestapelt, wer noch atmete, kam ins Lazarett. Vor allem die Läuse sorgten dafür, dass man nachts nicht schlafen konnte, von 840 Ankömmlingen sei nach zwei Monaten die Hälfte „weg“ gewesen.

    Echte Anteilnahme hat der Deportierte in dieser Zeit nur von einer einzigen russischen Mitgefangenen erlebt: „Unter Stalin durfte man nicht nur nichts Falsches sagen, sondern nicht mal falsch denken.“ Selbst die Spione hätten sich untereinander überwacht. Gegen Ende besserte sich seine Situation etwas, trotz Meldepflicht auf der Kommandantur und niedriger Arbeit auf einer kasachischen Sowchose.

    Nach Stalins Tod wurde er, dank Intervention eines Bekannten und Studium, Deutsch- und Mathematiklehrer, stieg 1964 zum geachteten Schulleiter auf: „In dieser Zeit war ich sogar glücklich.“ Später engagierte er sich in der Organisation „Wiedergeburt“ für die Neugründung der Wolgarepublik, es war vor allem die Enttäuschung über das Scheitern des Projekts unter Jelzin, die ihn mit seiner Frau nach Deutschland auswandern ließ.

    Über das harte Schicksal des Lehrerehepaars Ebel geben einige Ausstellungsstücke im Hintergrund Auskunft. Beide stammen aus dem Dorf Schönchen an der Wolga, die Verbannung ging über Zentralsibirien in die Gegend von Karaganda nach Kasachstan. Anna Ebel erzählt von der Hungerzeit, toten Kindern in den Armen ihrer Müttern und erschossenen Priestern, ein uraltes Kirchenbuch wurde mit unverfänglichem Umschlag getarnt. Viele änderten ihre deutschen Namen. Auch nach Stalin haftete ihrer Minderheit ein Makel an. Einmal bekam „Iwan Ebel“ Ärger, weil er als Deutscher „am falschen Ort“ gemalt hatte. Sein Großvater, Vater und sechs weitere nahe Verwandte waren am 20. Juni 1942 in Kasan, auf dem Archangelsker Friedhof, erschossen worden: Die Geheimpolizei des NKWD hatte sich aus dem Kontakt zu einem aus dem Reich stammenden Lehrer eine Verschwörung zur Bildung einer wolgadeutschen Guerillagruppe konstruiert: eine Hexenjagd, bei der insgesamt 15 Menschenleben ausgelöscht wurden. Ihr Schicksal blieb lange ungeklärt. Mittlerweile gibt es ein Denkmal für die Opfer, dank der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial.

    Anna Ebel erinnert sich, dass ihre Familie in Sibirien zunächst am Ortsrand hausen, von Brennesselsuppe und Sauerampfer leben mussten. Ausgerechnet ein empörter Soldat, der im Krieg gegen die Nazis ein Bein verloren hatte, sorgte dafür, dass sie im Dorf aufgenommen wurden. Vergeben, das ginge, heißt es im Saal, bevor mit Hilfe des Samowars Tee gekocht wird: Vergessen nicht. Auch wenn sich Frau Ebel nach der Ausreise in der Weimarer Fürstengruft verneigt hat („Goethe und Schiller haben mich ermutigt, Deutsche zu bleiben, das waren keine Faschisten“) ist das Gefühl für die alte Heimat nie erloschen: „Heimweh bleibt.“ Die Ausstellung ist noch bis 5.Juni im Pfarrsaal Christkönig zu sehen, Montag bis Samstag, 10 bis 17 Uhr.

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